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Weinreich, Otto; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1930/31, 7. Abhandlung): Fabel, Aretalogie, Novelle: Beiträge zu Phädrus, Petron, Martial und Apuleius — Heidelberg, 1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.40158#0074
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74

Otto Weinreich:

D. Anhang.
Zur Vorgeschichte und zum Fortleben der Novelle
von der treulosen Witwe.
Auf diese Fragen genauer einzugehen, erforderte ein Buch. Nur ein paar
Bemerkungen und Literaturhinweise seien angeschlossen, zunächst im Hinblick
auf die ältere Arbeit von E. Grisebach. E. Rohde hat sie Kl. Sehr. II 186 ff. ebenso
scharf abgelehnt wie (wegen methodischer Unzulänglichkeit) Bedier, Fabliaux5 462.
Nur die Fülle des Materials anerkannte Bedier, und das trifft auch zu, für die
erst nach Rohdes Kritik erschienene, definitive Ausgabe: „Die Wanderung der
Novelle von der treulosen Witwe durch die Weltliteratur“ 2 1889. Grisebachs
Versuch, die ganz spät bezeugte chinesische Geschichte deshalb ins 4. Jhd. v. Chr.
zu setzen, weil als ihr Held ein Taoist genannt wird, der in dieser Zeit lebte, ist
voreilig; gerade die mittelalterlichen Fortbildungen von Phädrus und Romulus
zeigen, wie ganz beliebige historische Namen zur Individualisierung der Wander-
novelle benutzt werden. Aber ist Grisebach einmal im 4. Jhd. v. Chr., macht er
auch den Sprung von China nach Indien, als dem vermeintlichen Mutterlande
so vieler Novellen; Benfey war vorsichtiger gewesen (Pantschatantra I 460): „ich
kenne keine indische Darstellung, an die wir sie in ihrer Besonderheit anzu-
schließen vermöchten“. F. Wilhelm, der m. W. zuletzt die Novelle übersetzte
(Chinesische Volksmärchen, Jena 1914, no. 39) geht S. 395 auf dies Problem gar
nicht ein. Heute, wo wir durch die Turfanfunde sehen, wieviel Hellenistisches
nach Indien und China kam, wird man eher geneigt sein, Wanderung des klein-
asiatischen Stoffs in den fernen Osten anzunehmen — sofern man überhaupt aus
einer Novelle alles herleiten will. Dies Streben tritt bei Grisebach — und in
seiner Zeit überhaupt — ganz evident auf im Zusammenhang mit dem biologischen
Entwicklungsgedanken, gegen dessen Übertragung auf Geistesgeschichte man heut
skeptischer ist. Ich finde die Ähnlichkeit zwischen der chinesischen Form und
der antiken gar nicht so groß, daß wir sie auf eine gemeinsame Quelle zurück-
führen müßten, und halte es durchaus für möglich, daß aus naheliegenden Ge-
danken über Weibertreue bzw. Untreue selbständig ein fernöstlicher und helle-
nistischer Archetypus sich herausgebildet hat. In der Religionsgeschichte rechnen
wir stark mit spontanen Bildungen in verschiedenen Kulturkreisen und infolge-
dessen mit religiösen Konvergenzen statt mit historischer Deszendenz; sollte es
in der Literaturgeschichte nicht ähnlich liegen können? Kürzlich wollte Hadas,
Oriental Elements in Petronius (Am. Journ. of Philol. 50, 1929, 385), das Vor-
handensein jüdischer Versionen als Indizium für den östlichen Ursprung bewerten.
Aber die jüdischen Fassungen beruhen, soweit ich sehe, auf einer aus dem Phädrus-
Romulus-Typus fortentwickelten Form. — Die vulgärgriechische Fassung in einem
Weiberspiegel des 16. Jhd. (Krumbacher, Sitz. - Ber. München 1905, S. 387ff.
v. 377—418) führt Krumbacher auf Phädrus zurück; sie beruht aber auf Romulus,
da sie statt mehrerer Räuber (so Petr., Ph.) den einen hat (Rom.). Es wäre
notwendig, die ganzen mittelalterlichen und neueren Versionen nach den in unserer
 
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