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Dibelius, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1931/32, 4. Abhandlung): Jungfrauensohn und Krippenkind: Untersuchungen zur Geburtsgeschichte Jesu im Lukas-Evangelium — Heidelberg, 1932

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https://doi.org/10.11588/diglit.40162#0021
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Jungfrauensohn und Krippenkind.

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nun επισκιάζω in Parallele. Da die folgenden Worte von dem „Er-
zeugten“ reden, so muß der Vorgang der göttlichen Zeugung hier
in Form einer Prophezeiung umschrieben sein. Man ist also ver-
sucht, dem Wort έπισκιάζειν einen konkreten Sinn abzugewinnen.
Es kann, abgesehen von der eigentlichen Bedeutung „überschatten“,
nur „bedecken“ oder „sich lagern über“ in Frage kommen. So
lagert sich die Wolke Jahves über dem Zelt (LXX Ex. 40, 35);
so lagert sich auch die Wolke, aus der Gottes Stimme ertönt, hei
der Verklärung Jesu über die Anwesenden (Mk. 9, 7 und Parallelen).
Wenn man diese Bedeutung auf unsere Stelle anwendet, so erhält
man eine Vorstellung, die als ein Gegenbild zur menschlichen Zeu-
gung aufgefaßt werden kann; ein solches Gegenbild anzudeuten
war wohl auch die Absicht des Erzählers1. Aber es muß festgestellt
werden, daß dem Wort, das er gebraucht, keinerlei technische Be-
deutung innewohnt; es ist weder ein Euphemismus zur Bezeich-
nung des Geschlechtsverkehrs2, noch ein feststehender Ausdruck für
das Herabkommen des göttlichen Geistes auf den Menschen. Das
Wort έπισκιάζειν ist freilich etwas konkreter als das vorher ge-
brauchte έπέρχεσθαι; dieses läßt nur an die Ankunft des Geistes
denken, jenes an seine Tätigkeit; aber auch έπισκιάζειν verhüllt
mehr als daß es verrät3. Die Tatsache der göttlichen Zeugung steht
im Vordergrund; der Vollzug selbst bleibt Geheimnis und soll
Geheimnis bleiben. Die Hauptsache ist dem Erzähler also nicht
die Erhaltung der Jungfrauschaft bei Maria; wesentlich
ist ihm vor allem die göttliche Zeugung, wie sie durch das
Wort έπισκιάζειν umschrieben wird. Andere Verwendungen des
Wortes kommen gegenüber der Eindeutigkeit dieser Beziehung
nicht in Betracht4.
1 Justin deutet zwar πνεύμα und δύναμις unseres Textes auf den Logos,
hat aber doch das Wesentliche der Worte dahin verstanden, daß von Zeugung,
nur nicht von menschlich-geschlechtlicher Zeugung, die Rede ist. Er sagt Apo-
logie I 33, 6 vom Pneuma: καί τούτο έλθον έπί τήν παρθένον καί επίσκιασαν ού διά
συνουσίας άλλα διά δυνάμεως έγκύμονα κατέστησε.
2 Das rabbinische Judentum kennt mehr als einen solchen Ausdruck:
man sagt von dem Weib, daß sie mit dem Manne „rede“, von dem Mann,
daß er zu ihr „eingehe“; sie heißt die vom Mann „Betretene“ (M. Kethu-
both 1 7), man spricht von der „Bedienung des Lagers“ (b. Kethuboth 63a);
auch „essen beim Mann“ wird von manchen Rabbinen geschlechtlich gedeutet
(b. Ivethuboth 65 b). Ein Euphemismus, der an „überschatten“ erinnert, ist
aber, wie mir K. H. Rengstorf bestätigt, nicht belegt.
3 Über die Ausdeutungen von obumbrare bei den Lateinern siehe Bar-
dekhewer, Mariä Verkündigung (Bibi. Studien X, 5), S. 142.
4 Das gilt von dem Versuch, die Bedeutung von σκιά „Schatten“ -
 
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