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Martin Dibelius:
Stellung in jener schon erwähnten Ode Salomos 19 genannt werden
(s. oben S. 50). Freilich ist weder der Text noch der Zusammen-
hang mit dem ersten Teil der Ode gesichert. Für V. 6 hält man sich
am besten an die Wiedergabe bei Lactantius Divinae Institutiones
IV 12, 3 infirmatus est Uterus virginis et accepit fetum et gravata est
et facta est in multa miseratione mater virgo. Die folgenden Worte
lauten nach Gressmann1 (bei Hennecke, Neutest. Apokr.2 455):
fsie kam in Wehen und gebar einen Sohn ohne Schmerzen, weil es
sonst nicht geziemend gewesen wäre (andere: weil es nicht leicht-
sinnig geschehen war). Auch forderte sie keine Wehemutter, da
er ihr die Wehen nahm. Als Menschen (andere: wie ein Mann)
gebar sie ihn in Willigkeit’. Trotz aller Zweifel am Wortlaut ge-
winnt man doch den Eindruck, daß hier beides festgestellt werden
soll: die Geburt ist real und ist doch wunderbar.
Neben diesen Texten stehen die von einem ganz anderen Inter-
esse geleiteten Darstellungen, die den zunächst nur mittelbar er-
zählten Vorgang der Erzeugung zum Christus-Mythus in Be-
ziehung setzen. Die wichtigste alte Erzählung dieser Art verdanken
wir der 1919 von Schmidt und Wajnberg als „Gespräche Jesu
mit seinen Jüngern“ veröffentlichten Epistula apostolorum. Hier
berichtet Christus von seinem Abstieg durch die Himme] auf die
Erde: ,,an den Erzengeln und Engeln ging ich vorüber in ihrer
Gestalt“ (äth. Text 13, kopt. S. 47) — das ist das bekannte Ver-
kleidungsmotiv2—·; und dann erscheint er der Maria in Gestalt des
Engels Gabriel. Die Ankündigung der Erzeugung aber muß dem
Vorgang selbst weichen: „ich formte mich und ging hinein in ihren
Leib; ich wurde Fleisch, da ich war mir allein Diener (äth.: mein
eigner Bote) in bezug auf Maria in einer Sichtbarkeit von Engels-
gestalt“ (kopt. Text S. 51. 53). Dieser Text ist darum so wichtig,
weil er einer Schrift entstammt, die bewußt die Gnostiker bekämpft.
Die für gnostisch geltende Tendenz zu einer derartigen Mythisierung
ist also auch in der Kirche wirksam geworden3.
1 Die von Burkitt im Britischen Museum identifizierte zweite Hand-
schrift der Oden erlaubt den Schluß, daß der Satz des oben folgenden Zitats
„weil es . . . wäre“ zum Vorhergehenden gehört, s. Kittel, Zeitschr. für neutest.
Wissenschaft 1913, 83. Aber darüber hinaus bleiben viele Textprobleme
ungelöst.
2 Vgl. mein Buch „Die Geisterwelt im Glauben des Paulus“ 92 ff.
3 Das scheint auch durch das Gebet auf einem Papyrus des 4. oder
5. Jahrhunderts bezeugt zu werden: ό έλθ-ών διά τοΰ Γαβριήλ έν τή γαστρί τής
Μαρίας τής παρθένου (Reitzenstein, Zwei religionsgeschichtliche Fragen 122).
Martin Dibelius:
Stellung in jener schon erwähnten Ode Salomos 19 genannt werden
(s. oben S. 50). Freilich ist weder der Text noch der Zusammen-
hang mit dem ersten Teil der Ode gesichert. Für V. 6 hält man sich
am besten an die Wiedergabe bei Lactantius Divinae Institutiones
IV 12, 3 infirmatus est Uterus virginis et accepit fetum et gravata est
et facta est in multa miseratione mater virgo. Die folgenden Worte
lauten nach Gressmann1 (bei Hennecke, Neutest. Apokr.2 455):
fsie kam in Wehen und gebar einen Sohn ohne Schmerzen, weil es
sonst nicht geziemend gewesen wäre (andere: weil es nicht leicht-
sinnig geschehen war). Auch forderte sie keine Wehemutter, da
er ihr die Wehen nahm. Als Menschen (andere: wie ein Mann)
gebar sie ihn in Willigkeit’. Trotz aller Zweifel am Wortlaut ge-
winnt man doch den Eindruck, daß hier beides festgestellt werden
soll: die Geburt ist real und ist doch wunderbar.
Neben diesen Texten stehen die von einem ganz anderen Inter-
esse geleiteten Darstellungen, die den zunächst nur mittelbar er-
zählten Vorgang der Erzeugung zum Christus-Mythus in Be-
ziehung setzen. Die wichtigste alte Erzählung dieser Art verdanken
wir der 1919 von Schmidt und Wajnberg als „Gespräche Jesu
mit seinen Jüngern“ veröffentlichten Epistula apostolorum. Hier
berichtet Christus von seinem Abstieg durch die Himme] auf die
Erde: ,,an den Erzengeln und Engeln ging ich vorüber in ihrer
Gestalt“ (äth. Text 13, kopt. S. 47) — das ist das bekannte Ver-
kleidungsmotiv2—·; und dann erscheint er der Maria in Gestalt des
Engels Gabriel. Die Ankündigung der Erzeugung aber muß dem
Vorgang selbst weichen: „ich formte mich und ging hinein in ihren
Leib; ich wurde Fleisch, da ich war mir allein Diener (äth.: mein
eigner Bote) in bezug auf Maria in einer Sichtbarkeit von Engels-
gestalt“ (kopt. Text S. 51. 53). Dieser Text ist darum so wichtig,
weil er einer Schrift entstammt, die bewußt die Gnostiker bekämpft.
Die für gnostisch geltende Tendenz zu einer derartigen Mythisierung
ist also auch in der Kirche wirksam geworden3.
1 Die von Burkitt im Britischen Museum identifizierte zweite Hand-
schrift der Oden erlaubt den Schluß, daß der Satz des oben folgenden Zitats
„weil es . . . wäre“ zum Vorhergehenden gehört, s. Kittel, Zeitschr. für neutest.
Wissenschaft 1913, 83. Aber darüber hinaus bleiben viele Textprobleme
ungelöst.
2 Vgl. mein Buch „Die Geisterwelt im Glauben des Paulus“ 92 ff.
3 Das scheint auch durch das Gebet auf einem Papyrus des 4. oder
5. Jahrhunderts bezeugt zu werden: ό έλθ-ών διά τοΰ Γαβριήλ έν τή γαστρί τής
Μαρίας τής παρθένου (Reitzenstein, Zwei religionsgeschichtliche Fragen 122).