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Martin Dibelius:
für das ganze Volk; denn ήτις εσται παντί τώ λαώ ist genau so auf
die Juden zu beziehen wie der Ruf des Unheilspropheten Josua,
der in Jerusalem vier Jahre vor dem Krieg auftrat: φωνή επί 'Ιερο-
σόλυμα καί τον ναόν, φωνή έπί νυμφίους καί νύμφας, φωνή επί τον λαόν πάντα
(Josephus, Bellum Jud. VI 301). Eine Beziehung des Heils wie
der Freude auf Himmel und Erde tritt erst im Lobgesang der Engel
zutage. Hier dagegen kann man nur konstatieren, daß das messia-
nische Heil für Israel mit Worten geschildert ist, die an hellenistische
Epiphanien erinnern.
Das gilt nun auch von der Verkündung der Geburt selbst. Die
Hirten hören aus des Engels Mund, daß σήμερον, d. h. in derselben
Nacht ein Retter (σωτήρ) für sie geboren ist „in der Stadt Davids“.
Diese letzten Worte, gerichtet an Männer von Bethlehem, sagen
deutlich genug, daß nicht irgendein von Gott gesandter Retter ge-
meint ist, sondern der Retter, der aus Davids Stadt und Geschlecht
erwartet wird, der Heiland, der Messias. Der erklärende Satz, ος
έστιν Χριστός κύριος, enthält also nichts Neues. Man darf auch
sagen, daß er in das Pathos der Botschaft ein Prosa-Element hinein-
bringt. Aber diese stilistische Beobachtung würde zu einem kriti-
schen Urteil nicht ausreichen, wenn nicht der Titel des Kindes
Bedenken erweckte. Als Bezeichnung des Messias würde man Χριστός
κυρίου erwarten; so heißt es Lk. 2, 26; so müßte es auch Klage!.
Jerem. 4, 20 für das hebräische „der Gesalbte Jahves“ heißen,
wenn die LXX wörtlich übersetzt hätten; aber sie bieten Χριστός
κύριος wie Ps. Salomos 17, 36. Und auch dort muß man als Ori-
ginal „der Gesalbte Jahves“ vermuten, da Ps. Sah 18, 6 von „sei-
nem (Gottes) Gesalbten“ die Rede ist. Der Ausdruck Χριστός κύριος
muß in einer frühen christlichen Erzählung auf fallen, da κύριος
als Jesustitel in dem alten Traditionsgut niemals gebraucht ist.
Ganz anders liegt die Sache, wenn wir ihn auf Lukas zurückführen
dürfen, denn dieser Evangelist ist der älteste Zeuge für den Ge-
brauch von κύριος als Jesus-Bezeichnung in der Erzählung. Die
Konjektur Χριστός κυρίου behauptet gewiß nichts Unmögliches;
wahrscheinlicher aber ist der nach all den genannten Beobach-
tungen naheliegende Schluß, daß der erklärende Relativsatz von
dem Evangelisten eingefügt ist. Ihm war die Botschaft έτέχΤη ύμίν
σήμερον σωτήρ έν πόλει Δαυίδ noch nicht christlich genug; uns
verrät sie gerade in dieser Form, daß die Erzählung auf dem Boden
des Judenchristentums stilisiert ist, freilich, wie wir nach all den
Epiphanie-Anklängen urteilen müssen: des hellenistischen Juden-
christentums.
Martin Dibelius:
für das ganze Volk; denn ήτις εσται παντί τώ λαώ ist genau so auf
die Juden zu beziehen wie der Ruf des Unheilspropheten Josua,
der in Jerusalem vier Jahre vor dem Krieg auftrat: φωνή επί 'Ιερο-
σόλυμα καί τον ναόν, φωνή έπί νυμφίους καί νύμφας, φωνή επί τον λαόν πάντα
(Josephus, Bellum Jud. VI 301). Eine Beziehung des Heils wie
der Freude auf Himmel und Erde tritt erst im Lobgesang der Engel
zutage. Hier dagegen kann man nur konstatieren, daß das messia-
nische Heil für Israel mit Worten geschildert ist, die an hellenistische
Epiphanien erinnern.
Das gilt nun auch von der Verkündung der Geburt selbst. Die
Hirten hören aus des Engels Mund, daß σήμερον, d. h. in derselben
Nacht ein Retter (σωτήρ) für sie geboren ist „in der Stadt Davids“.
Diese letzten Worte, gerichtet an Männer von Bethlehem, sagen
deutlich genug, daß nicht irgendein von Gott gesandter Retter ge-
meint ist, sondern der Retter, der aus Davids Stadt und Geschlecht
erwartet wird, der Heiland, der Messias. Der erklärende Satz, ος
έστιν Χριστός κύριος, enthält also nichts Neues. Man darf auch
sagen, daß er in das Pathos der Botschaft ein Prosa-Element hinein-
bringt. Aber diese stilistische Beobachtung würde zu einem kriti-
schen Urteil nicht ausreichen, wenn nicht der Titel des Kindes
Bedenken erweckte. Als Bezeichnung des Messias würde man Χριστός
κυρίου erwarten; so heißt es Lk. 2, 26; so müßte es auch Klage!.
Jerem. 4, 20 für das hebräische „der Gesalbte Jahves“ heißen,
wenn die LXX wörtlich übersetzt hätten; aber sie bieten Χριστός
κύριος wie Ps. Salomos 17, 36. Und auch dort muß man als Ori-
ginal „der Gesalbte Jahves“ vermuten, da Ps. Sah 18, 6 von „sei-
nem (Gottes) Gesalbten“ die Rede ist. Der Ausdruck Χριστός κύριος
muß in einer frühen christlichen Erzählung auf fallen, da κύριος
als Jesustitel in dem alten Traditionsgut niemals gebraucht ist.
Ganz anders liegt die Sache, wenn wir ihn auf Lukas zurückführen
dürfen, denn dieser Evangelist ist der älteste Zeuge für den Ge-
brauch von κύριος als Jesus-Bezeichnung in der Erzählung. Die
Konjektur Χριστός κυρίου behauptet gewiß nichts Unmögliches;
wahrscheinlicher aber ist der nach all den genannten Beobach-
tungen naheliegende Schluß, daß der erklärende Relativsatz von
dem Evangelisten eingefügt ist. Ihm war die Botschaft έτέχΤη ύμίν
σήμερον σωτήρ έν πόλει Δαυίδ noch nicht christlich genug; uns
verrät sie gerade in dieser Form, daß die Erzählung auf dem Boden
des Judenchristentums stilisiert ist, freilich, wie wir nach all den
Epiphanie-Anklängen urteilen müssen: des hellenistischen Juden-
christentums.