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Eduard Fraenicel:
Heinze und andere Forscher1 nach wie vor auf Buechelers Deu-
tung und das Hineintragen des Gegensatzes zwischen epischer und
lyrischer Dichtung angewiesen, zumal auch sie keinen Versuch
machten das von Kiessling aufgebrachte Schlagwort "Hohn’ an-
gesichts des Textes zu überprüfen.
Ins Freie gelangen wir in dem Augenblick, wo wir uns klar-
machen, daß von Hohn auch bei der jetzt gesicherten Interpretation
des Mittelteils gar keine Rede ist. Gleich am Eingang des Gedichts
steht ein mythologisches Bild; es könnte uns von vornherein dar-
auf hinweisen, was für Wertungen hier zu erwarten sind, und Auf-
schluß darüber geben, ob wir uns wirklich in einer Sphäre befinden,
wo tollkühner Flug mit dummdreister Verblendung und beschei-
denes Verharren im begrenzten Kreise mit musterhafter Weisheit
ohne weiteres gleichgesetzt wird. Wer in der Art Pindars zu dichten
sucht, ceratis ope Daedalea nititur pennis, vilreo daturus nornina
ponto. Die Erklärer2 hören hier nur die Unbesonnenheit und den
Todessturz; beides ist ja auch unverkennbar gemeint, aber Horaz
hat in der Erscheinung gerade des Icarus doch wohl noch anderes,
Tieferes gegeben als das gemeine Scheitern eines leichtsinnigen
Toren. "Ikarus! Ikarus! Jammer genug’ heißt es bei Goethe, aber
dann weiter: "doch zuletzt das höchste Sinnen gab dem reinen Mut
Gewicht, wolltest Herrliches gewinnen, aber es gelang dir nicht’
und ein ander Mal von dem gleichen Helden, dessen Bild in die
Euphorion-Ikarusgestalt eingegangen ist: "ewig bleibt ihm Gloria,
bleiben uns die Tränen’. Daß man die Gloria in dem Ikarus-
schicksal nicht überhöre, darauf kommt für das Verständnis des
Horazgedichtes sehr viel an. Es ist unerlaubt die Wendung vilreo
daturus nomina ponto vollständig zu entwerten, gleich als sei sie
nur ein beliebig vertauschbarer Griphos für den Namen Ikarus.
Solche Versatzstücke verschmäht die horazische Lyrik auf der Stufe
der Vollendung, und ihr gehört die Pindarode an. Zugrundegehen
1 Unbedingt folgt der Buechelerschen Erklärung Villemeuve (Ilorace,
Ödes et epodes, Paris 1927) in der Fußnote zu seiner Übersetzung von
4, 2, 33, nur bedingt Pasquali, Orazio lirico (Florenz 1920) 780. in-
sofern er auf der Tatsache insistiert daß Julius epischer Dichter sei, wo-
von ja lloraz nichts sagt noch andeutet. Hingegen wird Buechelers Ge-
danke an ein episches Triumphalgedicht von Pasquali mit Recht abgelehnt.
2 Am skrupellosesten in der Umdeutung des Icarusgleichnisses verfährt
wohl Lucian Mueller, der zu vilreo dat. nom. ponto bemerkt: 'man wird frei-
lich seinen Namen im Gedächtnisse bewahren, aber nur wie den des Icarus
oder Herostratus (!)’.
Eduard Fraenicel:
Heinze und andere Forscher1 nach wie vor auf Buechelers Deu-
tung und das Hineintragen des Gegensatzes zwischen epischer und
lyrischer Dichtung angewiesen, zumal auch sie keinen Versuch
machten das von Kiessling aufgebrachte Schlagwort "Hohn’ an-
gesichts des Textes zu überprüfen.
Ins Freie gelangen wir in dem Augenblick, wo wir uns klar-
machen, daß von Hohn auch bei der jetzt gesicherten Interpretation
des Mittelteils gar keine Rede ist. Gleich am Eingang des Gedichts
steht ein mythologisches Bild; es könnte uns von vornherein dar-
auf hinweisen, was für Wertungen hier zu erwarten sind, und Auf-
schluß darüber geben, ob wir uns wirklich in einer Sphäre befinden,
wo tollkühner Flug mit dummdreister Verblendung und beschei-
denes Verharren im begrenzten Kreise mit musterhafter Weisheit
ohne weiteres gleichgesetzt wird. Wer in der Art Pindars zu dichten
sucht, ceratis ope Daedalea nititur pennis, vilreo daturus nornina
ponto. Die Erklärer2 hören hier nur die Unbesonnenheit und den
Todessturz; beides ist ja auch unverkennbar gemeint, aber Horaz
hat in der Erscheinung gerade des Icarus doch wohl noch anderes,
Tieferes gegeben als das gemeine Scheitern eines leichtsinnigen
Toren. "Ikarus! Ikarus! Jammer genug’ heißt es bei Goethe, aber
dann weiter: "doch zuletzt das höchste Sinnen gab dem reinen Mut
Gewicht, wolltest Herrliches gewinnen, aber es gelang dir nicht’
und ein ander Mal von dem gleichen Helden, dessen Bild in die
Euphorion-Ikarusgestalt eingegangen ist: "ewig bleibt ihm Gloria,
bleiben uns die Tränen’. Daß man die Gloria in dem Ikarus-
schicksal nicht überhöre, darauf kommt für das Verständnis des
Horazgedichtes sehr viel an. Es ist unerlaubt die Wendung vilreo
daturus nomina ponto vollständig zu entwerten, gleich als sei sie
nur ein beliebig vertauschbarer Griphos für den Namen Ikarus.
Solche Versatzstücke verschmäht die horazische Lyrik auf der Stufe
der Vollendung, und ihr gehört die Pindarode an. Zugrundegehen
1 Unbedingt folgt der Buechelerschen Erklärung Villemeuve (Ilorace,
Ödes et epodes, Paris 1927) in der Fußnote zu seiner Übersetzung von
4, 2, 33, nur bedingt Pasquali, Orazio lirico (Florenz 1920) 780. in-
sofern er auf der Tatsache insistiert daß Julius epischer Dichter sei, wo-
von ja lloraz nichts sagt noch andeutet. Hingegen wird Buechelers Ge-
danke an ein episches Triumphalgedicht von Pasquali mit Recht abgelehnt.
2 Am skrupellosesten in der Umdeutung des Icarusgleichnisses verfährt
wohl Lucian Mueller, der zu vilreo dat. nom. ponto bemerkt: 'man wird frei-
lich seinen Namen im Gedächtnisse bewahren, aber nur wie den des Icarus
oder Herostratus (!)’.