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Ernst Hoffmann:
sondern der tiefere Grund liegt in der philosophischen Verschieden-
heit beider Männer beschlossen. Sokrates hat ein Evangelium
hinterlassen1, das Evangelium von der durch entbundene Er-
kenntnis mündigen und verantwortlichen Menschenvernunft, wel-
che das Gute wissen, es folglich ausführen, und dadurch glückselig
sein kann. Die Wahrheit dieses Evangeliums hat Sokrates in sei-
nem Leben und Sterben selber verwirklicht, und es ist von dem
größten seiner Apostel so im Bilde verewigt worden, daß es leib-
haftig vor uns steht. Was aber Platon von Eigenem hinterlassen
hat, war kein Evangelium, sondern es war die Philosophie selber als
Großes und als vielgegliedertes Ganzes, die philosophische Wissens-
Techne, wie er allein sie zur Entwicklung und zur Reife, ja zur Er-
kenntnis ihres eigenen Seins gebracht hatte2. Was er jedoch über
ihre Grundlagen und Voraussetzungen, über ihre Motive und For-
schungsbereiche ausgeführt hatte, das wurde schon in seinen höhe-
ren Lebensjahren für andere zu einem Aggregat von Lehrstücken,
das von seinen Schülern nur stückweise ergriffen und großenteils
unter dem Einfluß anders gerichteter Zeitströmungen so weiter-
verarbeitet wurde, daß Platons Nachwirkung kaum zu trennen
ist von den Konversionen, ja sogar Perversionen, denen seine Lehre
vom Anfang ihrer historischen Wirkung an unterworfen wurde.
Sein schöpferisches Leben aber, sein persönliches Erzeugen der
Philosophie als solcher und somit die Philosophie in ihrem Status
nascendi hatte ihr Ende in der seinem Erdendasein gesetzten
Zeit. Der Platonismus, soweit er nicht vom Aristotelismus trans-
formiert wurde und in ihm scheinbar aufging, verfiel dem Schick-
sal, ‘doxographisch’ verwendet zu werden.
Wir haben es im Folgenden mit der geschichtlich wirkungs-
reichsten unter den Konversionen des Platonismus zu tun: mit dem
hellenistischen Platonisieren, das die Ansätze zur späteren Mystik
entwickelte. Hierfür ist auszugehen von dem Herzstück der Lehre
Platons: der systematischen Verbindung von Agathon-Speku-
lation, Ideenlehre und Abbildtheorie, welche dem genuinen Pla-
tonismus eine charakteristische Dreiheit zum Rückgrat seines
ganzen Gefüges gab. Durch diese Dreiheit will nicht nur irgendein
Systemteil seiner Lehre neben anderen, auch nicht nur etwa die
religiöse Tönung oder Krönung des Ganzen bezeichnet sein, sondern
1 Der Ausdruck rechtfertigt sich durch Phaed. 78a.
2 Vgl. U. v. Wxlamowitz, Platou I, S. 107 über das Wort ‘Philosophie .
Ernst Hoffmann:
sondern der tiefere Grund liegt in der philosophischen Verschieden-
heit beider Männer beschlossen. Sokrates hat ein Evangelium
hinterlassen1, das Evangelium von der durch entbundene Er-
kenntnis mündigen und verantwortlichen Menschenvernunft, wel-
che das Gute wissen, es folglich ausführen, und dadurch glückselig
sein kann. Die Wahrheit dieses Evangeliums hat Sokrates in sei-
nem Leben und Sterben selber verwirklicht, und es ist von dem
größten seiner Apostel so im Bilde verewigt worden, daß es leib-
haftig vor uns steht. Was aber Platon von Eigenem hinterlassen
hat, war kein Evangelium, sondern es war die Philosophie selber als
Großes und als vielgegliedertes Ganzes, die philosophische Wissens-
Techne, wie er allein sie zur Entwicklung und zur Reife, ja zur Er-
kenntnis ihres eigenen Seins gebracht hatte2. Was er jedoch über
ihre Grundlagen und Voraussetzungen, über ihre Motive und For-
schungsbereiche ausgeführt hatte, das wurde schon in seinen höhe-
ren Lebensjahren für andere zu einem Aggregat von Lehrstücken,
das von seinen Schülern nur stückweise ergriffen und großenteils
unter dem Einfluß anders gerichteter Zeitströmungen so weiter-
verarbeitet wurde, daß Platons Nachwirkung kaum zu trennen
ist von den Konversionen, ja sogar Perversionen, denen seine Lehre
vom Anfang ihrer historischen Wirkung an unterworfen wurde.
Sein schöpferisches Leben aber, sein persönliches Erzeugen der
Philosophie als solcher und somit die Philosophie in ihrem Status
nascendi hatte ihr Ende in der seinem Erdendasein gesetzten
Zeit. Der Platonismus, soweit er nicht vom Aristotelismus trans-
formiert wurde und in ihm scheinbar aufging, verfiel dem Schick-
sal, ‘doxographisch’ verwendet zu werden.
Wir haben es im Folgenden mit der geschichtlich wirkungs-
reichsten unter den Konversionen des Platonismus zu tun: mit dem
hellenistischen Platonisieren, das die Ansätze zur späteren Mystik
entwickelte. Hierfür ist auszugehen von dem Herzstück der Lehre
Platons: der systematischen Verbindung von Agathon-Speku-
lation, Ideenlehre und Abbildtheorie, welche dem genuinen Pla-
tonismus eine charakteristische Dreiheit zum Rückgrat seines
ganzen Gefüges gab. Durch diese Dreiheit will nicht nur irgendein
Systemteil seiner Lehre neben anderen, auch nicht nur etwa die
religiöse Tönung oder Krönung des Ganzen bezeichnet sein, sondern
1 Der Ausdruck rechtfertigt sich durch Phaed. 78a.
2 Vgl. U. v. Wxlamowitz, Platou I, S. 107 über das Wort ‘Philosophie .