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Martin Honecker:
wisse Kenntnisse des Griechischen besessen haben — das können
wir im Hinblick auf die angeführten zeitgenössischen Zeugnisse
nicht völlig in Abrede stellen. Allein diese Kenntnisse werden so
gering gewesen sein, daß es einem Lobredner besser erscheinen
mochte, sie zu übergehen als zu erwähnen71.
Diese Annahme erhält eine überraschende Bestätigung, wenn
wir noch einen Zeitgenossen zu Worte kommen lassen, dessen Aus-
sage sich unmittelbar auf die griechische Sprachkenntnis des Cusa-
ners bezieht, aber erst von unserer Annahme aus verständlich wird.
Diese Bekundung stammt von dem Humanisten Francesco Piz-
zolpasso (damals Erzbischof von Mailand; gest. 1443), und sie
steht in einem Briefe, den dieser im Juni/Juli 1437 vom Basler
Konzil aus an den Humanisten Pier Candido Decembrio ge-
richtet hat72. Dort lesen wir über Nicolaus Gusanus (der kurz vor-
her Basel verlassen hat): Vir siquidem aliquando introductus linguae
graecae, ceterum alias eruditissimus ... Das merkwürdige aliquando
kann dem Zusammenhänge nach nicht den üblichen temporalen
Sinn besitzen; die Stelle kann also nicht bedeuten: Nikolaus von
Cues ist irgend ein mal in die griechische Sprache eingeweiht
worden. Denn sonst hätte der Gegensatz ceterum alias eruditissimus
keinen Sinn. Dieser Gegensatz verlangt vielmehr eine Interpreta-
tion von aliquando in dem Sinne von „manchmal“, „bisweilen“ und
zwar mit der weniger gebräuchlichen Sonderbedeutung „hier und
da“, „an einigen Stellen“, „in einigen Punkten“. Pizzolpasso will
also sagen, der Cusaner sei mit der griechischen Sprachlehre nur
in bezug auf einige Teile bekannt geworden, im übrigen besitze er
aber auf anderen Gebieten eine ausgezeichnete Bildung73.
Hätte Pizzolpasso bei Nikolaus von Cues eine gründliche Kenntnis
71 Jacobus Faber Stapulensis druckt im Anfang der von ihm besorgten
Cusanus-Ausgabe (1514), in seinem Widmungsschreiben an Bischof Dionysius
Brinconetus (Brigonnet) von Toulon (vgl. Eubel 7 III 315 und 231), ein Stück
der Lobrede des Giovanni Andrea dei Bussi ab. So wenig nun der letztere
von griechischen Kenntnissen des Cusaners spricht, so wenig läßt auch Jac.
Faber Stapulensis seinerseits darüber verlauten, obwohl er sonst in dem ge-
nannten Widmungsbrief den Nikolaus von Cues kaum genug zu rühmen weiß.
Zu beachten ist dabei, daß Jac. Faber Stapulensis die oben angeführte Be-
hauptung des Trithemius über die dreifache Sprachkenntnis des Cusanus sehr
wohl gekannt haben kann.
72 Sabbadini 41a 415, 41b 237, 42a 110, 48 34.
73 Wenn also J. Uebinger (54 470) jene Stelle wie folgt übersetzt: „Ein
Gelehrter, der ziemlich tief in die griechische Sprache eingedrungen, auch
sonst sehr unterrichtet ist“, so ist eine solche Auslegung offensichtlich falsch.
Martin Honecker:
wisse Kenntnisse des Griechischen besessen haben — das können
wir im Hinblick auf die angeführten zeitgenössischen Zeugnisse
nicht völlig in Abrede stellen. Allein diese Kenntnisse werden so
gering gewesen sein, daß es einem Lobredner besser erscheinen
mochte, sie zu übergehen als zu erwähnen71.
Diese Annahme erhält eine überraschende Bestätigung, wenn
wir noch einen Zeitgenossen zu Worte kommen lassen, dessen Aus-
sage sich unmittelbar auf die griechische Sprachkenntnis des Cusa-
ners bezieht, aber erst von unserer Annahme aus verständlich wird.
Diese Bekundung stammt von dem Humanisten Francesco Piz-
zolpasso (damals Erzbischof von Mailand; gest. 1443), und sie
steht in einem Briefe, den dieser im Juni/Juli 1437 vom Basler
Konzil aus an den Humanisten Pier Candido Decembrio ge-
richtet hat72. Dort lesen wir über Nicolaus Gusanus (der kurz vor-
her Basel verlassen hat): Vir siquidem aliquando introductus linguae
graecae, ceterum alias eruditissimus ... Das merkwürdige aliquando
kann dem Zusammenhänge nach nicht den üblichen temporalen
Sinn besitzen; die Stelle kann also nicht bedeuten: Nikolaus von
Cues ist irgend ein mal in die griechische Sprache eingeweiht
worden. Denn sonst hätte der Gegensatz ceterum alias eruditissimus
keinen Sinn. Dieser Gegensatz verlangt vielmehr eine Interpreta-
tion von aliquando in dem Sinne von „manchmal“, „bisweilen“ und
zwar mit der weniger gebräuchlichen Sonderbedeutung „hier und
da“, „an einigen Stellen“, „in einigen Punkten“. Pizzolpasso will
also sagen, der Cusaner sei mit der griechischen Sprachlehre nur
in bezug auf einige Teile bekannt geworden, im übrigen besitze er
aber auf anderen Gebieten eine ausgezeichnete Bildung73.
Hätte Pizzolpasso bei Nikolaus von Cues eine gründliche Kenntnis
71 Jacobus Faber Stapulensis druckt im Anfang der von ihm besorgten
Cusanus-Ausgabe (1514), in seinem Widmungsschreiben an Bischof Dionysius
Brinconetus (Brigonnet) von Toulon (vgl. Eubel 7 III 315 und 231), ein Stück
der Lobrede des Giovanni Andrea dei Bussi ab. So wenig nun der letztere
von griechischen Kenntnissen des Cusaners spricht, so wenig läßt auch Jac.
Faber Stapulensis seinerseits darüber verlauten, obwohl er sonst in dem ge-
nannten Widmungsbrief den Nikolaus von Cues kaum genug zu rühmen weiß.
Zu beachten ist dabei, daß Jac. Faber Stapulensis die oben angeführte Be-
hauptung des Trithemius über die dreifache Sprachkenntnis des Cusanus sehr
wohl gekannt haben kann.
72 Sabbadini 41a 415, 41b 237, 42a 110, 48 34.
73 Wenn also J. Uebinger (54 470) jene Stelle wie folgt übersetzt: „Ein
Gelehrter, der ziemlich tief in die griechische Sprache eingedrungen, auch
sonst sehr unterrichtet ist“, so ist eine solche Auslegung offensichtlich falsch.