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Zweites Kapitel: Literarhistorische Untersuchung. § 1.

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im Anschluß an einen einzelnen Vers aus der Festepistel zum Bitt-
gebet; und die Erzählung von der Gefangennahme und wunder-
baren Befreiung des Petrus gibt ihm Anlaß zu einer allegorischen
Deutung auf die Einkerkerung und Erlösung der Seele des Sünders.
Nun hat er die schönste Gelegenheit, die beiden letzten Bitten des
Vaterunsers dem Volke sehr anschaulich zu erklären; vielleicht hat
er sogar in der Kirchweihpredigt bewußt auf ihre Erklärung ver-
zichtet, weil er die Predigten der beiden Tage als Einheit betrach-
tete. Es ist bei dieser Sachlage natürlich ganz ausgeschlossen, die
Vaterunser-Predigt in den November zu verweisen.
Vielleicht wird man sich wundern, daß die Frage der Datie-
rung so ausführlich behandelt wird; das Datum mußte aber völlig
feststehen, um die Frage beantworten zu können: wie ist der Kar-
dinal dazu gekommen, gerade am Kirchweihfest 1455 über das
Vaterunser zu predigen ? Die Antwort gibt seine Korrespondenz
mit Tegernsee. Zwischen dem 9. September 1454 und dem 28. Juli
1455 — wahrscheinlich noch im Laufe des Herbstes oder beginnen-
den Winters 1454 — hatte Cusanus den Mönchen seine Augs-
burger Vaterunser-Erklärung geschickt1. Nun fragt Bernhard
von Waging in einem Brief, der wohl im Juli 1455 geschrieben ist2:
,,Copie sermonum ad populum ubi sunt über unus aut alter ? Colla-
ciones Bonaventure a Florencia, pater noster in latino etc. ?“ Der
Bischof antwortet am 28. Juli3: ,,Pater noster non habeo in latino
etc.“ Er weiß, daß er damit dem für den Humanismus begeisterten
Freund eine kleine Enttäuschung bereitet; und da er ihm im
gleichen Brief die von Bernhard gewünschten Sermones ver-
spricht4, nachdem die neue in Auftrag gegebene Kopie fertig ist,
so setzt er sich in den nächsten Tagen hin, um für diese Samm-
lung auch ein „Pater Noster in Latino“ zu schreiben. Vor ihm
liegt — daran kann kein Zweifel sein — die deutsche Vaterunser-
1 Vgl. E. Vansteenberghe, Autour de la Docte Ignorance (Beiträge
zur Gesch. d. Philos. des MA. XIV, 3—4), Münster i. W. 1915, S. 151, Brief
des Kardinals an Bernhard von Waging vom 9. Sept. 1454: „Nescio si
habetis expositionem meam super pater noster in vulgari; si non, mittam.“
Die uns nicht erhaltene Antwort sprach wohl die Bitte um Zusendung der
Schrift aus.
2 Vgl. a. a.O. Brief 33, S. 158. In Vansteenberghes Ausgabe fehlt das
Fragezeichen hinter etc. Es ist aber offenbar zu ergänzen.
3 Brief 34, S. 160.
4 a. a. 0.: ,,et sermones suo tempore, quos nunc ordino ut scribantur,
videbitis etc.“ Vgl. HSB. 1936/37, 2. Abh., S. 12.
 
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