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E. Wahle:
gehender Interessen, als daß zwischen beiden ein gegenseitiges Sich-
verstehen möglich gewesen wäre. Hoernes1 war ursprünglich klas-
sischer Archäologe und damit von Anfang seiner Laufbahn an den
Sachaltertümern eng verbunden. So erlebte er denn auch die
Anthropologischen Gesellschaften ganz anders wie Kossinna, und
die in ihnen getriebene „Anthropologie“ konnte seinem Verlangen
nach geschichtlicher Deutung der Vorzeit genügen. Er hat aber
doch so tief in das Wesen der archäologisch feststellbaren Ent-
wicklungsvorgänge hineingesehen, daß ihm die Schwäche der neuen
Methode deutlich vor Augen stand. Und ohne die Absicht gehabt
zu haben, ihr einen Ausweg zu weisen, machte er doch auf eine
im Fundstoff liegende Grenze unseres Wissens aufmerksam. ,,Im
Grunde genommen sehen wir,“ so sagt er einmal2, „nur Kultur-
gruppen, Zustände, Gewordenes, nicht das Werden und Entstehen.“
Darin kommt eine Schulung an den Sachaltertümern zum Aus-
druck, die ungleich intensiver war als diejenige Kossinnas, sowie
der Blick des Historikers für die Lücke, die zwischen den Alter-
tümern einerseits und dem tatsächlichen Leben der Vergangenheit
anderseits klafft.
Ungleich konkreter als dieser Einspruch ist derjenige der
beiden anderen Genannten. Meyer wie Schräder bauen ihn
gleichermaßen in ein umfängliches Lebenswerk ein, der eine in die
„Geschichte des Altertums“, der andere in sein Buch über „Sprach-
vergleichung und Urgeschichte“. Beide berücksichtigen die prä-
historischen Bereiche in demjenigen beträchtlichen Umfang, der
ihnen wegen der fachlichen Nachbarschaft geboten erscheint; sie
fühlen sich an der frühgeschichtlichen Forschung unmittelbar be-
teiligt, und so haben ihre von dem Bewußtsein der Verantwor-
tung getragenen Beanstandungen für uns Rückschauende einen
mehr als nur antiquarischen Wert. Zu beachten ist in diesem Zu-
sammenhang auch, daß Meyer seine Bedenken erstmals noch vor
dem Eingang Kossinnas in den Kreis der Prähistoriker äußert3,
er also auch gewisse ältere ethnische Deutungsversuche vor Augen
hat. Er spricht selbst einmal „von Anthropologen und noch mehr
1 Seine Stellung in der Geschichte der Vorzeitforschung hat noch keine
Würdigung erfahren. Bis dahin muß der ansprechende Nachruf auf ihn ge-
nügen. der O. Menghin (Wiener Prähistorische Zeitschrift 4, 1917, 1—23) ver-
dankt wird.
2 Vgl. unten S. 124.
3 Im zweiten Bande der ersten Auflage, 1893, 52.
E. Wahle:
gehender Interessen, als daß zwischen beiden ein gegenseitiges Sich-
verstehen möglich gewesen wäre. Hoernes1 war ursprünglich klas-
sischer Archäologe und damit von Anfang seiner Laufbahn an den
Sachaltertümern eng verbunden. So erlebte er denn auch die
Anthropologischen Gesellschaften ganz anders wie Kossinna, und
die in ihnen getriebene „Anthropologie“ konnte seinem Verlangen
nach geschichtlicher Deutung der Vorzeit genügen. Er hat aber
doch so tief in das Wesen der archäologisch feststellbaren Ent-
wicklungsvorgänge hineingesehen, daß ihm die Schwäche der neuen
Methode deutlich vor Augen stand. Und ohne die Absicht gehabt
zu haben, ihr einen Ausweg zu weisen, machte er doch auf eine
im Fundstoff liegende Grenze unseres Wissens aufmerksam. ,,Im
Grunde genommen sehen wir,“ so sagt er einmal2, „nur Kultur-
gruppen, Zustände, Gewordenes, nicht das Werden und Entstehen.“
Darin kommt eine Schulung an den Sachaltertümern zum Aus-
druck, die ungleich intensiver war als diejenige Kossinnas, sowie
der Blick des Historikers für die Lücke, die zwischen den Alter-
tümern einerseits und dem tatsächlichen Leben der Vergangenheit
anderseits klafft.
Ungleich konkreter als dieser Einspruch ist derjenige der
beiden anderen Genannten. Meyer wie Schräder bauen ihn
gleichermaßen in ein umfängliches Lebenswerk ein, der eine in die
„Geschichte des Altertums“, der andere in sein Buch über „Sprach-
vergleichung und Urgeschichte“. Beide berücksichtigen die prä-
historischen Bereiche in demjenigen beträchtlichen Umfang, der
ihnen wegen der fachlichen Nachbarschaft geboten erscheint; sie
fühlen sich an der frühgeschichtlichen Forschung unmittelbar be-
teiligt, und so haben ihre von dem Bewußtsein der Verantwor-
tung getragenen Beanstandungen für uns Rückschauende einen
mehr als nur antiquarischen Wert. Zu beachten ist in diesem Zu-
sammenhang auch, daß Meyer seine Bedenken erstmals noch vor
dem Eingang Kossinnas in den Kreis der Prähistoriker äußert3,
er also auch gewisse ältere ethnische Deutungsversuche vor Augen
hat. Er spricht selbst einmal „von Anthropologen und noch mehr
1 Seine Stellung in der Geschichte der Vorzeitforschung hat noch keine
Würdigung erfahren. Bis dahin muß der ansprechende Nachruf auf ihn ge-
nügen. der O. Menghin (Wiener Prähistorische Zeitschrift 4, 1917, 1—23) ver-
dankt wird.
2 Vgl. unten S. 124.
3 Im zweiten Bande der ersten Auflage, 1893, 52.