Der verborgene Gott
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ich es nicht kann. Es ist kein Widerspruch dazu, wenn der Areo-
pagite mit den Neuplatonikern in der Ekstase die Vereinigung mit
der Gottheit erleben läßt. Sie ist ein momentanes, nie ein dauern-
des Durchstoßen des verhüllenden Vorhanges, nicht der Einbruch
von oben, sondern das Ergebnis, das seltene Ergebnis, eines seeli-
schen Trainings. Der Logos verliert sich hier gleichsam einmal auf
das ihm versagte Gebiet und kennt auch jetzt die Gottheit nicht,
die Ekstase geht wie ein Taumel vorüber.
Ganz anders läuft die zweite Linie des sich verbergenden
Gottes. Reicher und komplizierter. Hier spricht nicht der Logos,
sondern der Mythos in einer Fülle von Möglichkeiten. Aber sie
haben einen Einheitspunkt: der sich verbergende Gott ist immer
ein anderer als er zu sein scheint, er stellt sich anders dar als er ist,
er ver-stellt oder versteckt sich. Der sich verbergende Gott ist
also ein Täuscher, und sofort erhebt sich in jedem Einzelfalle die
Frage nach dem Warum ? Er muß einen Zweck haben, den er mit
der Täuschung verfolgt. Diesen Zweck schildert der Mythus. Er
geht immer von oben nach unten, erklärt die scheinbare Paradoxie
des sich Verbergens. Damit ist schon die Möglichkeit einer Auf-
lösung der Täuschung gesetzt, und es fragt sich im Einzelfalle, wem
des Rätsels Lösung zu erfassen vergönnt wird. Das von unten nach
oben ist also auf dieser Linie nicht ein selbständig vordringender
Vernunftakt, sondern eine Gabe, das Geheimnis von oben zu ent-
schleiern.
„Der listensinnende Trug des Gottes“ nannte Karl Deich-
gräber seine in den Nachrichten der Gesellschaft der Wissen-
schaften zu Göttingen 1940 erschienene Untersuchung zur griechi-
schen Götterwelt. Man könnte sie auch überschreiben: der deus
absconditus, die sich verbergende Gottheit bei den Hellenen. Denn
sie bewegt sich ganz im Schema der zweiten Linie. In aller Kürze
muß ich darauf eingehen. Die Täuschung des Sich-Verbergens ist
hier zunächst im Vollsinne die List, die Verschlagenheit, der Betrug,
die geradezu eine schmeichelhafte Eigenschaft der Gottheit wer-
den können, also Selbstzweck. Hermes, der Erzschelm und Meister-
dieb, hat als Gott ein Anrecht auf die spielende Grazie der List,
ebenso die ihren hohen Gemahl betrügende Hera. Das Spiel des
Truges wird vor allen Dingen den Menschen gegenüber ausgeübt,
der homerische Held fällt durch den Betrug des täuschend sich ver-
hüllenden Gottes, verborgen versetzt Apollo dem Patroklos den
wehrlos machenden Schlag auf den Rücken, Athene verbirgt sich
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ich es nicht kann. Es ist kein Widerspruch dazu, wenn der Areo-
pagite mit den Neuplatonikern in der Ekstase die Vereinigung mit
der Gottheit erleben läßt. Sie ist ein momentanes, nie ein dauern-
des Durchstoßen des verhüllenden Vorhanges, nicht der Einbruch
von oben, sondern das Ergebnis, das seltene Ergebnis, eines seeli-
schen Trainings. Der Logos verliert sich hier gleichsam einmal auf
das ihm versagte Gebiet und kennt auch jetzt die Gottheit nicht,
die Ekstase geht wie ein Taumel vorüber.
Ganz anders läuft die zweite Linie des sich verbergenden
Gottes. Reicher und komplizierter. Hier spricht nicht der Logos,
sondern der Mythos in einer Fülle von Möglichkeiten. Aber sie
haben einen Einheitspunkt: der sich verbergende Gott ist immer
ein anderer als er zu sein scheint, er stellt sich anders dar als er ist,
er ver-stellt oder versteckt sich. Der sich verbergende Gott ist
also ein Täuscher, und sofort erhebt sich in jedem Einzelfalle die
Frage nach dem Warum ? Er muß einen Zweck haben, den er mit
der Täuschung verfolgt. Diesen Zweck schildert der Mythus. Er
geht immer von oben nach unten, erklärt die scheinbare Paradoxie
des sich Verbergens. Damit ist schon die Möglichkeit einer Auf-
lösung der Täuschung gesetzt, und es fragt sich im Einzelfalle, wem
des Rätsels Lösung zu erfassen vergönnt wird. Das von unten nach
oben ist also auf dieser Linie nicht ein selbständig vordringender
Vernunftakt, sondern eine Gabe, das Geheimnis von oben zu ent-
schleiern.
„Der listensinnende Trug des Gottes“ nannte Karl Deich-
gräber seine in den Nachrichten der Gesellschaft der Wissen-
schaften zu Göttingen 1940 erschienene Untersuchung zur griechi-
schen Götterwelt. Man könnte sie auch überschreiben: der deus
absconditus, die sich verbergende Gottheit bei den Hellenen. Denn
sie bewegt sich ganz im Schema der zweiten Linie. In aller Kürze
muß ich darauf eingehen. Die Täuschung des Sich-Verbergens ist
hier zunächst im Vollsinne die List, die Verschlagenheit, der Betrug,
die geradezu eine schmeichelhafte Eigenschaft der Gottheit wer-
den können, also Selbstzweck. Hermes, der Erzschelm und Meister-
dieb, hat als Gott ein Anrecht auf die spielende Grazie der List,
ebenso die ihren hohen Gemahl betrügende Hera. Das Spiel des
Truges wird vor allen Dingen den Menschen gegenüber ausgeübt,
der homerische Held fällt durch den Betrug des täuschend sich ver-
hüllenden Gottes, verborgen versetzt Apollo dem Patroklos den
wehrlos machenden Schlag auf den Rücken, Athene verbirgt sich