Der Ablauf der Osterereignisse und das leere Grab
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„Über die Frage, wie bei ihrem Schweigen der Verf. etwas davon
hat erfahren können, werden sich die gläubigen Leser nicht weiter
den Kopf zerbrochen haben“71.
Diese Deutung ist heute, wie gesagt, noch weit verbreitet. Aber
ich glaube nicht, daß sie sich halten läßt. Schon die ungeschickt-
raffinierte Absicht, mit der ihr zufolge der fragliche Satz formuliert
wäre, läßt sich wohl irgendeinem mittelalterlichen Legendenfabri-
kator Zutrauen, wäre aber innerhalb der alten evangelischen Über-
lieferung völlig ohne Beispiel. Man könnte innerhalb des Neuen Testa-
ments höchstens auf den Zweiten Petrusbrief als Parallele hinweisen,
die aber doch andersartig ist und aus dem späteren zweiten Jahrhun-
dert stammt. Entscheidend ist jedoch, daß die Erzählung auch so
noch das, was sie angeblich leisten soll, in Wirklichkeit gar nicht
leistet. Man kann den Text im Sinne jedes naiven Lesers und somit
auch des Verfassers nur so verstehen, daß die Frauen zunächst
geschwiegen hätten, so daß die folgenden Geschehnisse also ohne
ihr Zutun und ohne Rücksicht auf das leere Grab in Gang kamen71a.
Das kann Tage, vielleicht Wochen gedauert haben; aber spätestens
das Bekanntwerden der galiläischen Erscheinungen und die Entste-
hung der glaubenden Gemeinde muß ihnen dann doch die Zunge
gelöst haben, und ein um Jahre oder gar Jahrzehnte verspätetes
Auftauchen der Erzählung kann auf diesem Wege unmöglich er-
klärt werden72. Von hier aus läßt sich also der Bericht nicht wohl
in Zweifel ziehen. Aber ehe wir uns der Frage seines geschichtlichen
Wertes oder Unwertes von neuem zuwenden, ist es zur Sicherung
des Bisherigen erforderlich, daß wir für die Schlußworte des Evan-
geliums unsererseits eine brauchbare Erklärung finden; denn ihre
Seltsamkeit ist in der Tat nicht zu leugnen. Dazu ist es nötig, et-
was weiter auszuholen und die anderen Berichte über das leere
Grab auch noch ins Auge zu fassen.
71 Ed. Meyer I, 18. Dibelius S. 190 f. hat die Erklärung insofern feiner und
vorsichtiger gestaltet, als er annimmt, eine ältere, tendenzfrei gewachsene Legende
sei der apologetischen Absicht erst nachträglich dienstbar gemacht worden. Doch
für das Verständnis des entscheidendenVerses 16, 8 ist damit nichts geändert.
71a Diese Voraussetzung wird von Lukas in einem vergleichbaren Zusammen-
hang ausdrücklich hervorgehoben: die Jünger schweigen über die bei der Verklä-
rung erschauten Dinge έν έκείνοας ταΐς ήμ,έραις, d. h. bis zur Auferstehung und bis
zur endgültigen Verklärung des Herrn (Lk. 9, 36).
72 W. Baldensperger, Urchristliche Apologie. Die älteste Auferstehungskon-
troverse (1909) 36, hat dies mit Recht betont. Seine eigene Deutung, V. 16, 8 solle
„das ganz unglaubliche Ausbleiben der Jünger am Ostermorgen“ erklären, ent-
springt freilich auch modernem Empfinden und hat am Text kaum einen Anhalt.
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„Über die Frage, wie bei ihrem Schweigen der Verf. etwas davon
hat erfahren können, werden sich die gläubigen Leser nicht weiter
den Kopf zerbrochen haben“71.
Diese Deutung ist heute, wie gesagt, noch weit verbreitet. Aber
ich glaube nicht, daß sie sich halten läßt. Schon die ungeschickt-
raffinierte Absicht, mit der ihr zufolge der fragliche Satz formuliert
wäre, läßt sich wohl irgendeinem mittelalterlichen Legendenfabri-
kator Zutrauen, wäre aber innerhalb der alten evangelischen Über-
lieferung völlig ohne Beispiel. Man könnte innerhalb des Neuen Testa-
ments höchstens auf den Zweiten Petrusbrief als Parallele hinweisen,
die aber doch andersartig ist und aus dem späteren zweiten Jahrhun-
dert stammt. Entscheidend ist jedoch, daß die Erzählung auch so
noch das, was sie angeblich leisten soll, in Wirklichkeit gar nicht
leistet. Man kann den Text im Sinne jedes naiven Lesers und somit
auch des Verfassers nur so verstehen, daß die Frauen zunächst
geschwiegen hätten, so daß die folgenden Geschehnisse also ohne
ihr Zutun und ohne Rücksicht auf das leere Grab in Gang kamen71a.
Das kann Tage, vielleicht Wochen gedauert haben; aber spätestens
das Bekanntwerden der galiläischen Erscheinungen und die Entste-
hung der glaubenden Gemeinde muß ihnen dann doch die Zunge
gelöst haben, und ein um Jahre oder gar Jahrzehnte verspätetes
Auftauchen der Erzählung kann auf diesem Wege unmöglich er-
klärt werden72. Von hier aus läßt sich also der Bericht nicht wohl
in Zweifel ziehen. Aber ehe wir uns der Frage seines geschichtlichen
Wertes oder Unwertes von neuem zuwenden, ist es zur Sicherung
des Bisherigen erforderlich, daß wir für die Schlußworte des Evan-
geliums unsererseits eine brauchbare Erklärung finden; denn ihre
Seltsamkeit ist in der Tat nicht zu leugnen. Dazu ist es nötig, et-
was weiter auszuholen und die anderen Berichte über das leere
Grab auch noch ins Auge zu fassen.
71 Ed. Meyer I, 18. Dibelius S. 190 f. hat die Erklärung insofern feiner und
vorsichtiger gestaltet, als er annimmt, eine ältere, tendenzfrei gewachsene Legende
sei der apologetischen Absicht erst nachträglich dienstbar gemacht worden. Doch
für das Verständnis des entscheidendenVerses 16, 8 ist damit nichts geändert.
71a Diese Voraussetzung wird von Lukas in einem vergleichbaren Zusammen-
hang ausdrücklich hervorgehoben: die Jünger schweigen über die bei der Verklä-
rung erschauten Dinge έν έκείνοας ταΐς ήμ,έραις, d. h. bis zur Auferstehung und bis
zur endgültigen Verklärung des Herrn (Lk. 9, 36).
72 W. Baldensperger, Urchristliche Apologie. Die älteste Auferstehungskon-
troverse (1909) 36, hat dies mit Recht betont. Seine eigene Deutung, V. 16, 8 solle
„das ganz unglaubliche Ausbleiben der Jünger am Ostermorgen“ erklären, ent-
springt freilich auch modernem Empfinden und hat am Text kaum einen Anhalt.