1.
Die Kriterien, mit denen unsere Homer-Analyse zu arbeiten
pflegt, sind bisher vorwiegend negativer Natur gewesen. Das heißt:
die Philologen — seit den antiken Anfängen der Philologie ohnehin
daran gewöhnt, Anomalien wahrzunehmen und ihre Schlüsse darauf
zu gründen — haben auch im Homer ihre analytischen Operationen
seit G. Hermann und A. Kirchhoff vorwiegend auf jene wohlbekann-
ten Diskrepanzen und Inkonzinnitäten aufgebaut, die sich als An-
stöße4 im Bereich des Sprachlichen, Logischen wie Psychologischen,
der realen Verhältnisse und des natürlichen4 Ablaufs der Dinge
wie der Konsequenz im Zusammenhang der Erzählung bemerkbar
machen. — Diese negativen Kriterien werden als Ausgangspunkt
für unsere Betrachtungen immer unsere ernsthafte Aufmerksamkeit
verdienen: sie sind auf das Reale bezogen, das irgendwie auch in der
Dichtung Erscheinung wird, sind rational faßbar, weitgehend objek-
tiv, und wenn sie auch in der Regel nicht stark genug sind, den
sicheren Beweis für Störungen in der ursprünglichen Dichtung zu
erbringen, so vermögen sie doch in nicht wenigen Fällen immerhin
den Verdacht von solchen zu begründen. Jedoch sie haben nicht all-
gemein überzeugen können. Man behandelte und bemaß die Dich-
tung, diesen Kriterien entsprechend, zumeist ganz so wie das reale
Leben und beachtete zu wenig, daß Dichtung Dichtung ist und, als
Bild des realen Lebens, dabei doch ihren eigenen Gesetzen folgt. So
kam es, daß man vielfach jene Kriterien in unadaequater Weise an-
wandte und mit seinen analytischen Schlüssen nur gar zu oft das
Phänomen verfehlte.
Man hat versucht — so vor allem Wilamowitz — über diese nega-
tiven Kriterien hinauszukommen und die Homer-Analyse auf eine
Observation des Stiles und der Stile zu gründen. Die verschiedenen
Stile, die man unterschied, hat man dann ohne weiteres mit ,Schich-
ten4, ,Einzelgedichten4, ,Dichtern4 gleichgesetzt — auch dies, ohne
allgemeine Anerkennung zu finden. Der Grund dafür: diese einiger-
Die Kriterien, mit denen unsere Homer-Analyse zu arbeiten
pflegt, sind bisher vorwiegend negativer Natur gewesen. Das heißt:
die Philologen — seit den antiken Anfängen der Philologie ohnehin
daran gewöhnt, Anomalien wahrzunehmen und ihre Schlüsse darauf
zu gründen — haben auch im Homer ihre analytischen Operationen
seit G. Hermann und A. Kirchhoff vorwiegend auf jene wohlbekann-
ten Diskrepanzen und Inkonzinnitäten aufgebaut, die sich als An-
stöße4 im Bereich des Sprachlichen, Logischen wie Psychologischen,
der realen Verhältnisse und des natürlichen4 Ablaufs der Dinge
wie der Konsequenz im Zusammenhang der Erzählung bemerkbar
machen. — Diese negativen Kriterien werden als Ausgangspunkt
für unsere Betrachtungen immer unsere ernsthafte Aufmerksamkeit
verdienen: sie sind auf das Reale bezogen, das irgendwie auch in der
Dichtung Erscheinung wird, sind rational faßbar, weitgehend objek-
tiv, und wenn sie auch in der Regel nicht stark genug sind, den
sicheren Beweis für Störungen in der ursprünglichen Dichtung zu
erbringen, so vermögen sie doch in nicht wenigen Fällen immerhin
den Verdacht von solchen zu begründen. Jedoch sie haben nicht all-
gemein überzeugen können. Man behandelte und bemaß die Dich-
tung, diesen Kriterien entsprechend, zumeist ganz so wie das reale
Leben und beachtete zu wenig, daß Dichtung Dichtung ist und, als
Bild des realen Lebens, dabei doch ihren eigenen Gesetzen folgt. So
kam es, daß man vielfach jene Kriterien in unadaequater Weise an-
wandte und mit seinen analytischen Schlüssen nur gar zu oft das
Phänomen verfehlte.
Man hat versucht — so vor allem Wilamowitz — über diese nega-
tiven Kriterien hinauszukommen und die Homer-Analyse auf eine
Observation des Stiles und der Stile zu gründen. Die verschiedenen
Stile, die man unterschied, hat man dann ohne weiteres mit ,Schich-
ten4, ,Einzelgedichten4, ,Dichtern4 gleichgesetzt — auch dies, ohne
allgemeine Anerkennung zu finden. Der Grund dafür: diese einiger-