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Wolfgang Schadewaldt
wicklung‘, sondern unmotivierter Stillstand der Handlung1; ferner,
da Penelope während der Digression wohl eine Stunde oder mehr
auf ihrem Platze sitzen und warten muß, ,Mangel an natürlichem
Gefühl für das Schickliche1, und schließlich ein völlig unverständ-
liches, ja brutales Benehmen des Odysseus, als er vom Bade wieder
zu Penelope zurückkommt5. Wilamowitz, Von der Mühll wie neuer-
dings auch D. Page haben diese Argumente übernommen6, nicht
ohne jene absprechenden Epitheta, mit denen Homer-Analytiker
nach alter Weise dem armen Bearbeiter wie einem unbegabten und
noch dazu schlecht erzogenen Schuljungen auf die Finger klopfen.
Allein diese gar zu rationalen Argumente haben nicht unbedingt
überzeugen können. Man kann vom Standpunkt der Dichtung aus
zugunsten der Digression z. B. ein Prinzip des Aufschubs ins Feld
führen, das eine Spezialität des Dichters unserer Odyssee sei7. Ferner
besteht nicht einmal bei denen, die sich für die Eindichtung aus-
sprechen, ein Einverständnis darüber, wo die Eindichtung beginne
und wo sie ende — was für die analytische Lösung einigermaßen
kompromittierend ist8.
Wenn ich nun neu an die Sache herangehe, so sei im vorhinein
kurz gesagt, daß auch ich die Digression rein nach den konventio-
nellen Kriterien für schwer der Eindichtung verdächtig halte. Ich
lasse sie sich — mit Wilamowitz und Fr. Focke — von V. 117 —172
erstrecken, betone aber, daß das Verdachterregende an ihr nach mei-
ner Auffassung nicht so sehr die äußere Länge der Digression, son-
dern die disparate Fülle alles dessen ist, was sich mit Beratung,
Umkleiden, Tanz der Hausleute und Bad des Odysseus an realen
5 Adolf Kirchhoff, ,Die homerische Odyssee1, 2. Aufl. Berlin 1879, 553 ff.
6 Peter Von der Mühll, R.E.-Artikel ,Odyssee4 Sp. 761 f.; U. v. Wilamowitz,
,Heimkehr des Odysseus1, Berlin 1925, 70 f.; Denys Page, ,The Homeric Odys-
sey“, Oxford 1955, 114 f. Anders, aber nicht sehr überzeugend, E. Schwartz,
,Die Odyssee“, München 1924, 131, 217. Es sei im besonderen auf die vorsichtig
abwägende Behandlung der Stelle von Friedrich Focke, ,Die Odyssee“, Stutt-
gart-Berlin 1943, 367 ff. hingewiesen. Vgl. ferner R. Merkelbach, .Unter-
suchungen zur Odyssee“, 1951, 131, dem ich in seinen weitergehenden, auf
H. Frankel, Gnomon 3, 1927, 9 aufbauenden Erörterungen nicht folgen kann.
7 So Karl Reinhardt in einer mündlichen Äußerung.
8 Nach Kirchhoff soll sie entweder die Verse 111—176 oder 117—170 um-
fassen, nach Wilamowitz ,PIeimkehr“ 70 ff. die Verse 117—172, dem Fr. Focke
a. 0. 367 ff. folgt. Page setzt die Einlage neuerdings von 115 oder 117—170 an,
während sie nach Von der Mühll bereits bei 96 beginnen und sich bis 165 er-
strecken soll.
Wolfgang Schadewaldt
wicklung‘, sondern unmotivierter Stillstand der Handlung1; ferner,
da Penelope während der Digression wohl eine Stunde oder mehr
auf ihrem Platze sitzen und warten muß, ,Mangel an natürlichem
Gefühl für das Schickliche1, und schließlich ein völlig unverständ-
liches, ja brutales Benehmen des Odysseus, als er vom Bade wieder
zu Penelope zurückkommt5. Wilamowitz, Von der Mühll wie neuer-
dings auch D. Page haben diese Argumente übernommen6, nicht
ohne jene absprechenden Epitheta, mit denen Homer-Analytiker
nach alter Weise dem armen Bearbeiter wie einem unbegabten und
noch dazu schlecht erzogenen Schuljungen auf die Finger klopfen.
Allein diese gar zu rationalen Argumente haben nicht unbedingt
überzeugen können. Man kann vom Standpunkt der Dichtung aus
zugunsten der Digression z. B. ein Prinzip des Aufschubs ins Feld
führen, das eine Spezialität des Dichters unserer Odyssee sei7. Ferner
besteht nicht einmal bei denen, die sich für die Eindichtung aus-
sprechen, ein Einverständnis darüber, wo die Eindichtung beginne
und wo sie ende — was für die analytische Lösung einigermaßen
kompromittierend ist8.
Wenn ich nun neu an die Sache herangehe, so sei im vorhinein
kurz gesagt, daß auch ich die Digression rein nach den konventio-
nellen Kriterien für schwer der Eindichtung verdächtig halte. Ich
lasse sie sich — mit Wilamowitz und Fr. Focke — von V. 117 —172
erstrecken, betone aber, daß das Verdachterregende an ihr nach mei-
ner Auffassung nicht so sehr die äußere Länge der Digression, son-
dern die disparate Fülle alles dessen ist, was sich mit Beratung,
Umkleiden, Tanz der Hausleute und Bad des Odysseus an realen
5 Adolf Kirchhoff, ,Die homerische Odyssee1, 2. Aufl. Berlin 1879, 553 ff.
6 Peter Von der Mühll, R.E.-Artikel ,Odyssee4 Sp. 761 f.; U. v. Wilamowitz,
,Heimkehr des Odysseus1, Berlin 1925, 70 f.; Denys Page, ,The Homeric Odys-
sey“, Oxford 1955, 114 f. Anders, aber nicht sehr überzeugend, E. Schwartz,
,Die Odyssee“, München 1924, 131, 217. Es sei im besonderen auf die vorsichtig
abwägende Behandlung der Stelle von Friedrich Focke, ,Die Odyssee“, Stutt-
gart-Berlin 1943, 367 ff. hingewiesen. Vgl. ferner R. Merkelbach, .Unter-
suchungen zur Odyssee“, 1951, 131, dem ich in seinen weitergehenden, auf
H. Frankel, Gnomon 3, 1927, 9 aufbauenden Erörterungen nicht folgen kann.
7 So Karl Reinhardt in einer mündlichen Äußerung.
8 Nach Kirchhoff soll sie entweder die Verse 111—176 oder 117—170 um-
fassen, nach Wilamowitz ,PIeimkehr“ 70 ff. die Verse 117—172, dem Fr. Focke
a. 0. 367 ff. folgt. Page setzt die Einlage neuerdings von 115 oder 117—170 an,
während sie nach Von der Mühll bereits bei 96 beginnen und sich bis 165 er-
strecken soll.