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Schadewaldt, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1959, 2. Abhandlung): Neue Kriterien zur Odyssee-Analyse: die Wiedererkennung des Odysseus und der Penelope — Heidelberg, 1959

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https://doi.org/10.11588/diglit.42460#0025
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Neue Kriterien zur Odyssee-Analyse

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ihm ab. Menschen zu bilden, Situationen zu gestalten, Grundmotive
zu erfinden und sie organisch durchzuführen — dies alles ist nicht
seine Sache, und er ist darauf angewiesen, in dieser Hinsicht viel
seinem Vorgänger zu entleihen. Allein, weil ihm das Größte fehlt,
ist er noch lange nicht ein Pfuscher. Er ist ein nachdenklicher Mann,
bewegt von rechtlichen, religiösen, moralischen Problemen. Die
tiefere Rechtfertigung des Freiermords wie auch des Untergangs der
Gefährten des Odysseus war sein Hauptanliegen22. Im Einklang da-
mit haben es ihm die Erscheinungen des politischen wie gesellschaft-
lichen Lebens und vor allem Fragen der Schicklichkeit, der Herkunft
angetan und — wohl, weil er selber gerade nicht von Adel war —
die Gepflogenheiten des adligen Wesens. Er hat ein starkes neu-
artiges, man muß schon sagen: historisches Interesse. So zieht er die
Höfe von Pylos und Sparta in seine Darstellung hinein und hat eine
Vorliebe dafür, das Geschlecht des Odysseus mit dem Geschlecht der
Atriden zu parallelisieren. Es scheint, er ist der erste Mensch in
unserem Europa, der eine Nachkriegssituation geschildert hat23. Er
hat eine ausgesprochene Freude an den Dingen des Alltags, einen
feinen Sinn für das Schwebende der Stimmungen, für das Senti-
mentale, das so oft in der Welt mit dem Rationalen zusammengeht.
Folgenreich vor allem war in der Weltliteratur sein pädagogisches
Interesse: der Gedanke, in Telemachos den jungen Menschen zu
zeigen, der unter dem Anruf der Göttin sich entschließt, ein Mann
zu sein und auf die Reise zu gehen und die Welt zu sehen. In den
Dingen des Religiösen hat unser Bearbeiter im Gegensatz zu der
bekannten ,Natürlichkeit4 der homerischen Götter einen ausge-
sprochenen Sinn für das Numinose, für geheimnisvolle Epiphanien
der Götter, die sich beständig auch in Ahnungen, in Wunderzeichen,
Donnerschlägen manifestieren. Alles in allem stellt unser Bearbeiter
seinem Vorgänger gegenüber eine neue Stufe in der Entwicklung
des griechischen Bewußtseins dar. Vieles von dem, was er auszu-
sprechen suchte, weist bereits auf die Lyrik, ja die Tragödie voraus,
und es ist nicht seine Schuld, daß er im Bereich der epischen Aus-
drucksform nicht immer die Mittel fand, um seinen Vorstellungen
und Gedanken den adaequaten Ausdruck zu verleihen.
22 Zuerst gesehen von W. Jaeger, ,Solons Eunomie“, Sitzungsberichte der Preußi-
schen Akademie der Wissenschaften 1926, 73ff.; R. Pfeiffer DLZ 1928, 23. 64.
23 So vor allem in der Gestalt des ,reichen Mannes1 Menelaos im 4. Buch, der die
Erinnerung an die vielen vor Troja Gefallenen nicht los wird (4, 66 ff., bes.
97ff.), dazu die Droge, durch die Helena Vergessen schafft.
 
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