Luther als Schriftsteller
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und persönlichen Erfahrungen in sie zurückströmt70. Dadurch wer-
den sie zu einem unerschöpflichen Brunnen für sein Denken und
seine Sprache71.
Schwieriger als die sich deutlich abhebende Gruppe der seelsorger-
lichen Schriften sind seine großen theologischen Werke in ihrem
literarischen Charakter zu fassen. Es sind, soweit sie nicht der Bibel-
erklärung dienen, fast ausnahmslos Auseinandersetzungen, Streit-
schriften im unmittelbaren oder allgemeineren Sinne des Wortes.
Von dem Dutzend umfangreicher Abhandlungen über Gotteslehre
und Willensfreiheit, Wort und Geist, Rechtfertigung, Kirche, Sa-
kramente (insbesondere das Abendmahl), Messe, Beichte u. a., die
wir von Luther haben, ist keine ohne konkreten Anlaß entstanden.
Das bedeutet nicht nur etwas für ihre literarische Gestalt: sie wer-
den, wo es sich um eine direkte Kontroverse handelt, leicht formlos
und unübersichtlich. Sondern dieser dialogische Charakter bildet zu-
gleich einen integrierenden Bestandteil ihres sachlichen Gehalts. Da
Luther kein Systembildner war, wären wir über weite Bezirke seiner
Theologie nicht unterrichtet, wenn die großen Auseinandersetzungen
seines Lebens ihn nicht gezwungen hätten, sich über sie auszuspre-
chen. Seine Antwort auf das Buch des Löwener Theologen Latomus
(1521) bietet die geschlossenste Darlegung seiner Anschauungen von
Sünde, Gesetz und Gnade und muß zu einem Teil das Buch De
iustificatione ersetzen, das er gern noch geschrieben hätte. Ohne den
Angriff des Erasmus hätte er nie den Schleier von den Tiefen seines
70 Am Vergleich einer Taulerpredigt und einer Lutherpredigt über denselben Text
(Luk. 10, 23f.) hat Werner Kohlschmidt den Unterschied der Lutherschen von
der mystischen Predigtweise anschaulich gezeigt (Luther und unsere Sprache,
Ztschr. f. Deutschkunde 49, 1935, 165-177). Tauler entnimmt dem Text allein
das Thema des inneren Schauens und entfaltet es an einigen wenigen abstrakten
Begriffen (liden, demütikeit, entsinken, gelassenheit u. a.). Luther bleibt da-
gegen ebenso in der biblischen Geschichte wie im Leben. Auch Tauler benutzt
zwar Gleichnisse aus dem Leben. Aber: „Tauler holte die Wirklichkeit des All-
tags zum Vergleich heran. Luther spricht aus dieser Wirklichkeit heraus, und
er spricht in ihr“ (S. 176). In dieser „breiten Wirklichkeitsbeziehung“ sieht
Kohlschmidt auch - sicher richtig, und doch vielleicht etwas zu isolierend - die
geschichtliche Bedeutung von Luthers Sprache. „Hier allein liegt der entschei-
dende Vorrang der Luthersprache vor der der Mystik und des Humanismus,
nicht darin, daß sie besonders trächtig wäre an Neubildungen oder an syntak-
tischen Neuerscheinungen“ (S. 177).
71 Für ein Teilgebiet habe ich eine sehr gedrängte Übersicht zu geben versucht in
meinem Aufsatz: Erneuerung der Frömmigkeit. Luthers Predigten 1522-1524.
In: Wahrheit und Glaube. Festschrift für E. Hirsch (1963), 50-65.
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und persönlichen Erfahrungen in sie zurückströmt70. Dadurch wer-
den sie zu einem unerschöpflichen Brunnen für sein Denken und
seine Sprache71.
Schwieriger als die sich deutlich abhebende Gruppe der seelsorger-
lichen Schriften sind seine großen theologischen Werke in ihrem
literarischen Charakter zu fassen. Es sind, soweit sie nicht der Bibel-
erklärung dienen, fast ausnahmslos Auseinandersetzungen, Streit-
schriften im unmittelbaren oder allgemeineren Sinne des Wortes.
Von dem Dutzend umfangreicher Abhandlungen über Gotteslehre
und Willensfreiheit, Wort und Geist, Rechtfertigung, Kirche, Sa-
kramente (insbesondere das Abendmahl), Messe, Beichte u. a., die
wir von Luther haben, ist keine ohne konkreten Anlaß entstanden.
Das bedeutet nicht nur etwas für ihre literarische Gestalt: sie wer-
den, wo es sich um eine direkte Kontroverse handelt, leicht formlos
und unübersichtlich. Sondern dieser dialogische Charakter bildet zu-
gleich einen integrierenden Bestandteil ihres sachlichen Gehalts. Da
Luther kein Systembildner war, wären wir über weite Bezirke seiner
Theologie nicht unterrichtet, wenn die großen Auseinandersetzungen
seines Lebens ihn nicht gezwungen hätten, sich über sie auszuspre-
chen. Seine Antwort auf das Buch des Löwener Theologen Latomus
(1521) bietet die geschlossenste Darlegung seiner Anschauungen von
Sünde, Gesetz und Gnade und muß zu einem Teil das Buch De
iustificatione ersetzen, das er gern noch geschrieben hätte. Ohne den
Angriff des Erasmus hätte er nie den Schleier von den Tiefen seines
70 Am Vergleich einer Taulerpredigt und einer Lutherpredigt über denselben Text
(Luk. 10, 23f.) hat Werner Kohlschmidt den Unterschied der Lutherschen von
der mystischen Predigtweise anschaulich gezeigt (Luther und unsere Sprache,
Ztschr. f. Deutschkunde 49, 1935, 165-177). Tauler entnimmt dem Text allein
das Thema des inneren Schauens und entfaltet es an einigen wenigen abstrakten
Begriffen (liden, demütikeit, entsinken, gelassenheit u. a.). Luther bleibt da-
gegen ebenso in der biblischen Geschichte wie im Leben. Auch Tauler benutzt
zwar Gleichnisse aus dem Leben. Aber: „Tauler holte die Wirklichkeit des All-
tags zum Vergleich heran. Luther spricht aus dieser Wirklichkeit heraus, und
er spricht in ihr“ (S. 176). In dieser „breiten Wirklichkeitsbeziehung“ sieht
Kohlschmidt auch - sicher richtig, und doch vielleicht etwas zu isolierend - die
geschichtliche Bedeutung von Luthers Sprache. „Hier allein liegt der entschei-
dende Vorrang der Luthersprache vor der der Mystik und des Humanismus,
nicht darin, daß sie besonders trächtig wäre an Neubildungen oder an syntak-
tischen Neuerscheinungen“ (S. 177).
71 Für ein Teilgebiet habe ich eine sehr gedrängte Übersicht zu geben versucht in
meinem Aufsatz: Erneuerung der Frömmigkeit. Luthers Predigten 1522-1524.
In: Wahrheit und Glaube. Festschrift für E. Hirsch (1963), 50-65.