Luther als Schriftsteller
33
mensionen des Ringens um die Erneuerung der Christenheit. Ihm
stand keine der in der Zeit beliebten literarischen Formen an. Das
spürte Luther mit instinktiver Sicherheit und verließ sich darum
allein auf seine Sache und seine Sprache. Sie zusammen ergeben die
innere Form seines Schriftstellerns. Er will — über alle Regeln der
Rhetorik hinaus, die er wohl kennt79 - überzeugen und gewinnen,
durch Zuspruch oder durch Widerspruch. Darin gründet die Viel-
gestaltigkeit, mit der er sich dem Gegenüber und der jeweiligen
Situation zuwendet, und die Leidenschaft, mit der er den Reichtum
seiner Sprachnatur ausströmt.
Mit dem Verzicht auf strenge Formbindung war bei einem Mann
von dem Einfallsreichtum Luthers stets die Gefahr verbunden, daß
der Strom über die Ufer trat. Luther hat sich selbst oft genug als
„Wäscher“, als verbosus, getadelt80. Dem war am leichtesten ge-
wehrt, wenn seinem Schreiben ein natürliche Grenze gesetzt war,
etwa durch die Länge einer Predigt, den pädagogischen Zweck der
Katechismen - sie gehören darum zu seinen sprachlichen Meister-
leistungen — oder den Zeitzwang eines Briefes. Hier mußte sich seine
schriftstellerische Kunst besonders bewähren, weil ihm im Brief die
größte Spielbreite des Auszusagenden auf dem engsten Raum abge-
fordert wurde. So ist nach der Bibelübersetzung sein Briefwechsel
der reinste Spiegel seiner sprachlichen Genialität. Ähnlich wie diese
bedeutet er eine Epoche. Wenn Georg Steinhausen Luther den
„ersten Klassiker des deutschen Briefes“, den „ersten eigentlich in-
dividuellen Briefschreiber“ genannt hat81, so bedeutet das nicht, daß
es nicht schon vor ihm Blüten dieser Kunst gegeben hätte. Aber sie
sind selten und in ihren Themen und Ausdrucksmitteln viel stärker
begrenzt, sei es auf die persönliche Mitteilung oder auf das Aus-
sprechen geistlicher Erkenntnis. Sie beherrscht vor allem, wenn auch
durchaus nicht allein, das Zwiegespräch der deutschen Mystiker und
Weiser, sondern der Weise, Stolze, Mächtige als Narr. Vgl. dazu die Vorrede
zu den Sprüchen Salomonis (1524) und zu den Büchern Salomonis (1534). WA
Bibel 10, II, 2f.; 6. Material aus den Vorlesungen bei Eberhard Wölfel,
Luther und die Skepsis. Eine Studie zur Kohelet-Exegese Luthers (1958), S. 133,
139f.
79 Vgl. z. B. die Klimax S. 26 vor Anm. 58. Zur Benutzung antiker Stilvergleiche
bei Luthers tief eindringender Würdigung der dichterischen Schönheiten des
Alten Testaments s. mein Buch: Luther und das alte Testament (1948), S. 30ff.
80 Tischr. 5; 204, 27. Preuss, S. 208£f. Vgl. auch o. S. 27 Anm. 61.
81 Geschichte des deutschen Briefes I (1889), S. 112f.
3 Bornkamm, Luther als Schriftsteller
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mensionen des Ringens um die Erneuerung der Christenheit. Ihm
stand keine der in der Zeit beliebten literarischen Formen an. Das
spürte Luther mit instinktiver Sicherheit und verließ sich darum
allein auf seine Sache und seine Sprache. Sie zusammen ergeben die
innere Form seines Schriftstellerns. Er will — über alle Regeln der
Rhetorik hinaus, die er wohl kennt79 - überzeugen und gewinnen,
durch Zuspruch oder durch Widerspruch. Darin gründet die Viel-
gestaltigkeit, mit der er sich dem Gegenüber und der jeweiligen
Situation zuwendet, und die Leidenschaft, mit der er den Reichtum
seiner Sprachnatur ausströmt.
Mit dem Verzicht auf strenge Formbindung war bei einem Mann
von dem Einfallsreichtum Luthers stets die Gefahr verbunden, daß
der Strom über die Ufer trat. Luther hat sich selbst oft genug als
„Wäscher“, als verbosus, getadelt80. Dem war am leichtesten ge-
wehrt, wenn seinem Schreiben ein natürliche Grenze gesetzt war,
etwa durch die Länge einer Predigt, den pädagogischen Zweck der
Katechismen - sie gehören darum zu seinen sprachlichen Meister-
leistungen — oder den Zeitzwang eines Briefes. Hier mußte sich seine
schriftstellerische Kunst besonders bewähren, weil ihm im Brief die
größte Spielbreite des Auszusagenden auf dem engsten Raum abge-
fordert wurde. So ist nach der Bibelübersetzung sein Briefwechsel
der reinste Spiegel seiner sprachlichen Genialität. Ähnlich wie diese
bedeutet er eine Epoche. Wenn Georg Steinhausen Luther den
„ersten Klassiker des deutschen Briefes“, den „ersten eigentlich in-
dividuellen Briefschreiber“ genannt hat81, so bedeutet das nicht, daß
es nicht schon vor ihm Blüten dieser Kunst gegeben hätte. Aber sie
sind selten und in ihren Themen und Ausdrucksmitteln viel stärker
begrenzt, sei es auf die persönliche Mitteilung oder auf das Aus-
sprechen geistlicher Erkenntnis. Sie beherrscht vor allem, wenn auch
durchaus nicht allein, das Zwiegespräch der deutschen Mystiker und
Weiser, sondern der Weise, Stolze, Mächtige als Narr. Vgl. dazu die Vorrede
zu den Sprüchen Salomonis (1524) und zu den Büchern Salomonis (1534). WA
Bibel 10, II, 2f.; 6. Material aus den Vorlesungen bei Eberhard Wölfel,
Luther und die Skepsis. Eine Studie zur Kohelet-Exegese Luthers (1958), S. 133,
139f.
79 Vgl. z. B. die Klimax S. 26 vor Anm. 58. Zur Benutzung antiker Stilvergleiche
bei Luthers tief eindringender Würdigung der dichterischen Schönheiten des
Alten Testaments s. mein Buch: Luther und das alte Testament (1948), S. 30ff.
80 Tischr. 5; 204, 27. Preuss, S. 208£f. Vgl. auch o. S. 27 Anm. 61.
81 Geschichte des deutschen Briefes I (1889), S. 112f.
3 Bornkamm, Luther als Schriftsteller