34
Heinrich Bornkamm
Mystikerinnen, das uns in einem kostbaren Briefschatz erhalten ist82.
In Luthers Briefen blüht dagegen alles zugleich. Es gibt nichts, was
seine Feder nicht ausdrücken könnte83. Er spricht mit Fürsten so frei
wie mit Kindern und weiß auch bei Hochgestellten sehr genau zu
dosieren, was er ihnen - mit oder allmählich immer mehr ohne
Kurialstil - an Respekt, Dankbarkeit, freiem Rat, mutigem Wider-
spruch oder Hohn und Spott jeweils zu sagen hat. Von der Zartheit,
mit der er Angefochtene aufrichtet, Leidbetroffene tröstet, seine
Eltern auf das Sterben vorbereitet, den eigenen Schmerz über den
Tod von Kindern herausklagt, der Überlegenheit, mit der er den
Sorgen seiner Frau begegnet, vom Zorn über Feinde und manchmal
auch Freunde bis zu lustigen Schilderungen und derbem Sarkasmus
ist er nie um das treffende Wort verlegen. Für seinen Humor, eine
Frucht ebenso seiner Vitalität wie seines Glaubens, fließt hier eine
unerschöpfliche Quelle. Naturbilder, persönliche Erinnerungen, Be-
schreibungen historischer Situationen, erzieherische Weisheiten,
geistliche Belehrungen, theologische Distinktionen folgen in un-
unterbrochenem Wechsel, immer nach eigenem Stilgesetz. Es war
nicht das der humanistischen elegantia, zu welcher Erasmus anleitete
und die er als vielbewundertes Vorbild übte84. Nicht einmal in seinen
82 Überblick und reiche Auswahl bei Waldemar Oehl, Deutsche Mystikerbriefe,
1931. Steinhausen I, 13ff.
83 Für die noch fehlende umfassende stilistisch-sachliche Würdigung von Luthers
Briefen hat Theodor Lockemann eine Vorarbeit geleistet, die wesentlich mehr
bietet, als ihr bescheidener Titel verspricht: Technische Studien zu Luthers Brie-
fen an Friedrich den Weisen (Probefahrten, hrsg. von Albert Köster 22), 1913.
Vgl. auch die Einleitungen von Reinhard Buchwald zu seinen Auswahlaus-
gaben (1909, 1956); zu einzelnem u. a. die schöne Betrachtung von Kurt Ihlen-
feld über einige Trostbriefe: „Das Auge noch vom Weinen naß“ (Luther 34.
1963, 122-131).
84 De ratione conscribendi epistolas (1522). Opp. I, 341-484. J. Huizinga, Eras-
mus. Deutsch von Werner Kaegi (41951), S. llOf. schildert anschaulich den Lu-
thers Briefen völlig entgegengesetzten Literaturcharakter der humanistischen
Episteln: „Man schrieb in der Regel für einen weiteren Kreis im Hinblick auf
die spätere Publikation, oder jedenfalls mit dem Bewußtsein, daß der Adressat
den Brief anderen zu lesen geben werde. Ein hübscher lateinischer Brief war
ein Kleinod, um das man sich beneidete ... Seit 1515 nahm er (Erasmus) die
Publikation seiner Briefe selbst in die Hand, erst nur einige bedeutsame, dann
1516 eine Auswahl von Freundesbriefen an ihn, darauf stets größere Samm-
lungen, so daß am Ende seines Lebens beinahe jährlich ein Bändchen erschien.
Es gab kaum einen so gesuchten Artikel auf dem Buchmarkt wie Briefe von
Erasmus.“
Heinrich Bornkamm
Mystikerinnen, das uns in einem kostbaren Briefschatz erhalten ist82.
In Luthers Briefen blüht dagegen alles zugleich. Es gibt nichts, was
seine Feder nicht ausdrücken könnte83. Er spricht mit Fürsten so frei
wie mit Kindern und weiß auch bei Hochgestellten sehr genau zu
dosieren, was er ihnen - mit oder allmählich immer mehr ohne
Kurialstil - an Respekt, Dankbarkeit, freiem Rat, mutigem Wider-
spruch oder Hohn und Spott jeweils zu sagen hat. Von der Zartheit,
mit der er Angefochtene aufrichtet, Leidbetroffene tröstet, seine
Eltern auf das Sterben vorbereitet, den eigenen Schmerz über den
Tod von Kindern herausklagt, der Überlegenheit, mit der er den
Sorgen seiner Frau begegnet, vom Zorn über Feinde und manchmal
auch Freunde bis zu lustigen Schilderungen und derbem Sarkasmus
ist er nie um das treffende Wort verlegen. Für seinen Humor, eine
Frucht ebenso seiner Vitalität wie seines Glaubens, fließt hier eine
unerschöpfliche Quelle. Naturbilder, persönliche Erinnerungen, Be-
schreibungen historischer Situationen, erzieherische Weisheiten,
geistliche Belehrungen, theologische Distinktionen folgen in un-
unterbrochenem Wechsel, immer nach eigenem Stilgesetz. Es war
nicht das der humanistischen elegantia, zu welcher Erasmus anleitete
und die er als vielbewundertes Vorbild übte84. Nicht einmal in seinen
82 Überblick und reiche Auswahl bei Waldemar Oehl, Deutsche Mystikerbriefe,
1931. Steinhausen I, 13ff.
83 Für die noch fehlende umfassende stilistisch-sachliche Würdigung von Luthers
Briefen hat Theodor Lockemann eine Vorarbeit geleistet, die wesentlich mehr
bietet, als ihr bescheidener Titel verspricht: Technische Studien zu Luthers Brie-
fen an Friedrich den Weisen (Probefahrten, hrsg. von Albert Köster 22), 1913.
Vgl. auch die Einleitungen von Reinhard Buchwald zu seinen Auswahlaus-
gaben (1909, 1956); zu einzelnem u. a. die schöne Betrachtung von Kurt Ihlen-
feld über einige Trostbriefe: „Das Auge noch vom Weinen naß“ (Luther 34.
1963, 122-131).
84 De ratione conscribendi epistolas (1522). Opp. I, 341-484. J. Huizinga, Eras-
mus. Deutsch von Werner Kaegi (41951), S. llOf. schildert anschaulich den Lu-
thers Briefen völlig entgegengesetzten Literaturcharakter der humanistischen
Episteln: „Man schrieb in der Regel für einen weiteren Kreis im Hinblick auf
die spätere Publikation, oder jedenfalls mit dem Bewußtsein, daß der Adressat
den Brief anderen zu lesen geben werde. Ein hübscher lateinischer Brief war
ein Kleinod, um das man sich beneidete ... Seit 1515 nahm er (Erasmus) die
Publikation seiner Briefe selbst in die Hand, erst nur einige bedeutsame, dann
1516 eine Auswahl von Freundesbriefen an ihn, darauf stets größere Samm-
lungen, so daß am Ende seines Lebens beinahe jährlich ein Bändchen erschien.
Es gab kaum einen so gesuchten Artikel auf dem Buchmarkt wie Briefe von
Erasmus.“