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Hellmut Flashar
Unterschied ist also rein durch die Umstände bedingt. Auch die
letzte Perikiesrede zeigte ja deutlich das Reagieren der Menge auf
die Umstände: die Unbequemlichkeiten des Krieges bestimmen ihre
innere Verfassung (II 65, 5: jtoXepov dvr’ eipf]vr|g e/ovreg). Entspre-
chend bezieht auch Thukydides die Fähigkeit des Perikies, das Volk
maßvoll und sicher zu führen, auf die Friedenszeit (II 65, 5), eben
weil im Kriege bereits unter Perikies Umstände eintraten, die zu
Reaktionen führten (Einfall der Peloponnesier in Attika, Pest),
welche sich der rationalen Kontrolle des Perikies weitgehend ent-
zogen. So bestätigt die sog. Pathologie des Thukydides, daß der
Epitaphios kein ideales Wunschbild des Thukydides ist, sondern
macht von der faktischen Entwicklung der Ereignisse her deutlich,
daß sich hier in der Hülle der Lobrede unter dem Bild scheinbarer
Geordnetheit bereits die stets sich gleichbleibende Menschennatur
verbirgt, deren angeblich vorbildliche Erziehung so wenig gefestigt
ist, daß sie bei jedem Eintreten von ungünstigen Umständen sofort
zerbricht.
Wenn Thukydides für diese Entwicklung die aus Machtbegierde
(Pleonexie) und Ehrgeiz erstrebte Herrschaft verantwortlich macht
(III 82, 6-8), so wissen wir aus der Athenerrede des 1. Buches, daß
bereits die Machtpolitik des Perikies, so klug sie auch sein mag, im
Prinzip unter das gleiche Verdikt fällt, nur daß zu Lebzeiten des
Perikies die historische Situation nicht eingetreten ist, die die radi-
kale Entartung in voller Schärfe herbeigeführt hätte, welche - nach
der Deutung des Thukydides selbst (III 82, 1) - nicht auf ein ein-
maliges Verschulden einer Einzelpersönlichkeit zurückgeht, sondern
in der zwangsläufigen Konsequenz des Machtdenkens selbst liegt. Ob
Perikies, wenn er länger gelebt hätte, diese Entwicklung hätte ver-
hindern können, ist eine Frage, die sich für den Historiker direkt
nicht stellt, dem es darum zu tun ist, geschichtliche Prozesse, wie sie
abgelaufen sind, von ihren inneren Ursachen her verständlich zu
machen. Von Thukydides erfahren wir nur, daß es Staatsmänner
gab, die diese jeder Machtpolitik immanente gefährliche Entwick-
lung beschleunigen, und dazu gehören nach der Meinung des Thuky-
dides die Nachfolger des Perikies, die ihren Ehrgeiz nicht mehr zum
Nutzen des Staates, sondern zu persönlicher Gewinnsucht verwenden
(11182,8).
Durch den Aufweis der sich gleichbleibenden, auf die Zufälle
und Zwangslagen reagierenden Menschennatur gelingt es aber nun
Thukydides zugleich, den von den einzelnen Politikern in ihren
Hellmut Flashar
Unterschied ist also rein durch die Umstände bedingt. Auch die
letzte Perikiesrede zeigte ja deutlich das Reagieren der Menge auf
die Umstände: die Unbequemlichkeiten des Krieges bestimmen ihre
innere Verfassung (II 65, 5: jtoXepov dvr’ eipf]vr|g e/ovreg). Entspre-
chend bezieht auch Thukydides die Fähigkeit des Perikies, das Volk
maßvoll und sicher zu führen, auf die Friedenszeit (II 65, 5), eben
weil im Kriege bereits unter Perikies Umstände eintraten, die zu
Reaktionen führten (Einfall der Peloponnesier in Attika, Pest),
welche sich der rationalen Kontrolle des Perikies weitgehend ent-
zogen. So bestätigt die sog. Pathologie des Thukydides, daß der
Epitaphios kein ideales Wunschbild des Thukydides ist, sondern
macht von der faktischen Entwicklung der Ereignisse her deutlich,
daß sich hier in der Hülle der Lobrede unter dem Bild scheinbarer
Geordnetheit bereits die stets sich gleichbleibende Menschennatur
verbirgt, deren angeblich vorbildliche Erziehung so wenig gefestigt
ist, daß sie bei jedem Eintreten von ungünstigen Umständen sofort
zerbricht.
Wenn Thukydides für diese Entwicklung die aus Machtbegierde
(Pleonexie) und Ehrgeiz erstrebte Herrschaft verantwortlich macht
(III 82, 6-8), so wissen wir aus der Athenerrede des 1. Buches, daß
bereits die Machtpolitik des Perikies, so klug sie auch sein mag, im
Prinzip unter das gleiche Verdikt fällt, nur daß zu Lebzeiten des
Perikies die historische Situation nicht eingetreten ist, die die radi-
kale Entartung in voller Schärfe herbeigeführt hätte, welche - nach
der Deutung des Thukydides selbst (III 82, 1) - nicht auf ein ein-
maliges Verschulden einer Einzelpersönlichkeit zurückgeht, sondern
in der zwangsläufigen Konsequenz des Machtdenkens selbst liegt. Ob
Perikies, wenn er länger gelebt hätte, diese Entwicklung hätte ver-
hindern können, ist eine Frage, die sich für den Historiker direkt
nicht stellt, dem es darum zu tun ist, geschichtliche Prozesse, wie sie
abgelaufen sind, von ihren inneren Ursachen her verständlich zu
machen. Von Thukydides erfahren wir nur, daß es Staatsmänner
gab, die diese jeder Machtpolitik immanente gefährliche Entwick-
lung beschleunigen, und dazu gehören nach der Meinung des Thuky-
dides die Nachfolger des Perikies, die ihren Ehrgeiz nicht mehr zum
Nutzen des Staates, sondern zu persönlicher Gewinnsucht verwenden
(11182,8).
Durch den Aufweis der sich gleichbleibenden, auf die Zufälle
und Zwangslagen reagierenden Menschennatur gelingt es aber nun
Thukydides zugleich, den von den einzelnen Politikern in ihren