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Hellmut Flashar
rechtigkeit - ähnlich denen der Melier - an, ist den Anforderungen
der neuen Zeit im Grunde nicht gewachsen, steht an der Spitze des
sizilischen Feldzuges, den er selbst gar nicht gewollt hat, in dem er
aber dann doch trotz allen Zögerns und Zauderns seinen Mann steht,
um dann in der Katastrophe selbst zugrundezugehen96. Paradoxer-
weise erinnert gerade Nikias unmittelbar vor der letzten entschei-
denden Niederlage, nach einer für die Athener bereits verlustreichen
Seeschlacht, die zu äußerster Mutlosigkeit geführt hat (VII 55), in
verzweifelter und aussichtsloser Lage an die längst verblaßten Ideale
des Epitaphios: Freiheit, unbeschränkte Freizügigkeit der Lebens-
weise (jtaTQiöog te vqc; s^£U'&£QO)TaTY](; vnopipvTqoxaw xat Trjg ev aurfj
ävEitiTaxTou jtäoiv Eg tt)v öiairav E^ovoiag, VII 69, 2). Für den, der die
bittere Ironie des Thukydides darin nicht verspürt97, daß Nikias in
dieser desperaten Situation den bereits durch die vorangegangene
Niederlage völlig geschwächten Soldaten nun inhaltsleere Schlag-
worte entgegenhält, fügt der Historiker hinzu, Nikias habe noch
anderes gesagt, was man in einer derartig entscheidenden Situation
zu sagen pflegt, ohne sich darum zu kümmern, beim Hörer den Ein-
druck zu erwecken, veraltetes Zeug zu reden (aQ/aioZoysiv). Man
bringt so ziemlich das gleiche bezüglich Frauen, Kindern und heimi-
schen Götter vor98, während es doch eigentlich die gefahrvolle Situa-
tion erfordert, sich zuzurufen, was man bei einer derartigen Be-
stürzung für nützlich hält (aXV sjd rfj napoucrri ekhät^ei wcpsXipia vopi-
^ovTEg EjnßowvTai). So ordnet Thukydides selbst die Ideale des Epita-
phios in einer gegenüber dem Anfang des Krieges ins Gegenteil
06 Auf die hermeneutische Bedeutung der Gestalt des Nikias hat Strasburger,
Thukydides und die politische Selbstdarstellung der Athener, a. 0. 30 kurz
hingewiesen.
97 Ebenso sind auch die Mahnungen des Nikias VII 63, 3 in der ausführlichen
Rede vor der gleichen Schlacht zu beurteilen, die Oppermann, Zwei attische
Epitaphien 25 mit dem Epitaphios zusammenstellt, ohne den Abstand von
Schlagwort und Realität zu beachten. Dabei ist auch nicht zu übersehen, daß
die an den Geist des Epitaphios erinnernde Paränese des Nikias VII 63, 3 an
die aus Metöken bestehenden Matrosen, nicht aber an die freien Bürger wie im
Epitaphios, gerichtet ist, vgl. 0. Luschnat, Die Feldherrnreden im Geschichts-
werk des Thukydides, Phil. Suppl. 34, 2, 1942, 88f.
98 Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß sich dieser ganz allgemein gehaltene
Satz speziell und ausschließlich mit dem Epitaphios zur Deckung bringen lasse.
Aber die vorangehende Erinnerung an die athenischen Freiheitsideale machen
den Bezug zum Epitaphios deutlich, der damit in die Gruppe derartiger all-
gemeiner Reden eingeordnet ist.
Hellmut Flashar
rechtigkeit - ähnlich denen der Melier - an, ist den Anforderungen
der neuen Zeit im Grunde nicht gewachsen, steht an der Spitze des
sizilischen Feldzuges, den er selbst gar nicht gewollt hat, in dem er
aber dann doch trotz allen Zögerns und Zauderns seinen Mann steht,
um dann in der Katastrophe selbst zugrundezugehen96. Paradoxer-
weise erinnert gerade Nikias unmittelbar vor der letzten entschei-
denden Niederlage, nach einer für die Athener bereits verlustreichen
Seeschlacht, die zu äußerster Mutlosigkeit geführt hat (VII 55), in
verzweifelter und aussichtsloser Lage an die längst verblaßten Ideale
des Epitaphios: Freiheit, unbeschränkte Freizügigkeit der Lebens-
weise (jtaTQiöog te vqc; s^£U'&£QO)TaTY](; vnopipvTqoxaw xat Trjg ev aurfj
ävEitiTaxTou jtäoiv Eg tt)v öiairav E^ovoiag, VII 69, 2). Für den, der die
bittere Ironie des Thukydides darin nicht verspürt97, daß Nikias in
dieser desperaten Situation den bereits durch die vorangegangene
Niederlage völlig geschwächten Soldaten nun inhaltsleere Schlag-
worte entgegenhält, fügt der Historiker hinzu, Nikias habe noch
anderes gesagt, was man in einer derartig entscheidenden Situation
zu sagen pflegt, ohne sich darum zu kümmern, beim Hörer den Ein-
druck zu erwecken, veraltetes Zeug zu reden (aQ/aioZoysiv). Man
bringt so ziemlich das gleiche bezüglich Frauen, Kindern und heimi-
schen Götter vor98, während es doch eigentlich die gefahrvolle Situa-
tion erfordert, sich zuzurufen, was man bei einer derartigen Be-
stürzung für nützlich hält (aXV sjd rfj napoucrri ekhät^ei wcpsXipia vopi-
^ovTEg EjnßowvTai). So ordnet Thukydides selbst die Ideale des Epita-
phios in einer gegenüber dem Anfang des Krieges ins Gegenteil
06 Auf die hermeneutische Bedeutung der Gestalt des Nikias hat Strasburger,
Thukydides und die politische Selbstdarstellung der Athener, a. 0. 30 kurz
hingewiesen.
97 Ebenso sind auch die Mahnungen des Nikias VII 63, 3 in der ausführlichen
Rede vor der gleichen Schlacht zu beurteilen, die Oppermann, Zwei attische
Epitaphien 25 mit dem Epitaphios zusammenstellt, ohne den Abstand von
Schlagwort und Realität zu beachten. Dabei ist auch nicht zu übersehen, daß
die an den Geist des Epitaphios erinnernde Paränese des Nikias VII 63, 3 an
die aus Metöken bestehenden Matrosen, nicht aber an die freien Bürger wie im
Epitaphios, gerichtet ist, vgl. 0. Luschnat, Die Feldherrnreden im Geschichts-
werk des Thukydides, Phil. Suppl. 34, 2, 1942, 88f.
98 Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß sich dieser ganz allgemein gehaltene
Satz speziell und ausschließlich mit dem Epitaphios zur Deckung bringen lasse.
Aber die vorangehende Erinnerung an die athenischen Freiheitsideale machen
den Bezug zum Epitaphios deutlich, der damit in die Gruppe derartiger all-
gemeiner Reden eingeordnet ist.