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Flashar, Hellmut; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1969, 1. Abhandlung): Der Epitaphios des Perikles: seine Funktion im Geschichtswerk d. Thukydides — Heidelberg, 1969

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https://doi.org/10.11588/diglit.44304#0065
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Der Epitaphios des Perikies

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Anwendung- der Denkmittel einer neuen Zeit auf halbem Wege
stehen geblieben ist, sondern macht ihn in stärkerem Maße, in tie-
ferem Sinne und mit größerer Konsequenz zum Historiker, als er
nach den Ergebnissen derer erscheinen muß, die in dem Epitaphios
das apologetische Ideal des so erst recht rückwärts gewandten Thuky-
dides sehen105.
formuliert 0. Luschnat, Lexicon der Alten Welt, Zürich 1965, 3079: „Diese
fast religiöse Qualität des Werkes ist um so bewundernswerter, als Th. sie
erreicht, ohne positive Aussagen über die Götter zu machen.“
105 Daß das Thukydidesbild von E. Schwartz, der mit dieser Vorstellung die For-
schung lange bestimmt hat, aus einer Nachkriegsstimmung (1919) entstanden
und von der eigenen politischen Gegenwart her mitbestimmt ist, hat H.-P.
Stahl, a. 0. 12ff. gezeigt. Die Einwände von J. de Romilly, a. 0. 376 (in den
Nachträgen der englischen Ausgabe ihres Buches) gegen Strasburger, der
(Thukydides und die politische Selbstdarstellung der Athener, a. 0.) kurz
darauf hingewiesen hatte, daß die Perikiesreden (einschließlich des Epitaphios)
sich nicht mit der Meinung des Thukydides deckten, sind m. E. nicht über-
zeugend. Denn es ist ja nicht gesagt, daß dann der Epitaphios „only a piece
of rhetoric“ sei und daß Thukydides keinerlei Sympathie mit Perikies empfinde.
Und das Argument, man könne sonst nicht verstehen, warum der Epitaphios
für Jahrhunderte als das Idealbild gegolten habe, läßt sich durch den Hinweis
auf die Genesis der communis opinio entkräften: Schon im 4. Jh. lebte das
Menschenbild des Epitaphios als Ideal ohne die für Thukydides entscheidende
machtpolitische Komponente weiter (Isokrates) und ist dann in die hellenisti-
schen Idealvorstellungen des Gebildeten und in das römische Humanitätsbild
eingegangen. Die Perikiesfrage ist sodann durch Plutarch für Jahrhunderte
ganz ins Biographische gewendet, wie man an der enkomiastischen Darstellung
von A. Schmidt, Perikies und seine Zeit, Jena 1877 noch sehen kann. Dabei
hat man allgemein auch aus Plutarch zu viel herausgelesen, vgl. E. Meinhardt,
Perikies bei Plutarch, Diss. Frankfurt 1957, der nachweist, daß der Kultur-
begriff eines perikleischen Zeitalters sich aus Plutarch nicht entnehmen läßt,
sondern eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts darstellt (81). Als dann die
Thukydidesanalyse sich des Phänomens bemächtigte, standen politische Vor-
stellungen der Gegenwart (Bismarck, Einigung des Reichs, Weltkrieg) Pate.
Wie verschieden das Thukydidesbild je nach allgemein politischer Vorstellung
und nationaler Einstellung der Interpreten sein kann, zeigt (außer den bei Stahl,
a. 0. 12ff. angeführten Beispielen) besonders deutlich eine Gegenüberstellung
der Berliner Rektoratsrede 1919 von E. Meyer (Kleine Schriften II 1924, 538ff.)
mit den Ausführungen des Genfer Archäologen W. Deonna, L’Eternel present,
guerre du Peloponnese (431-404) et guerre mondiale (1915-1918), REG 35,
1922, Iff.; 113ff. E. Meyer verbindet in patriotischer Emotion die Auffassung
von der apologetischen Tendenz des thukydideischen Geschichtswerkes mit der
Reflexion über die deutsche Situation von 1919, wobei Deutschland in Analogie
zu Athen gesehen und beider Politik gerechtfertigt wird. Die gemeinsame Basis
ist die Auffassung: „Machtstreben und Machterweiterung ist das Lebens-
 
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