Cicero und Panaitios
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Ausführlichkeit bei der Einleitung zur vierten Kardinaltugend über-
raschen. Doch dürfte die Breite dieser Einführung wohl zu den
Beobachtungen passen, die wir bei der Einführung des καλόν
<honestum> (1,14) machten. Dort sahen wir schon, daß Panaitios
diesem Bereich die größte Bedeutung beimaß (vgl. oben S. 21-23).
Es wurde schon dort die besondere Rolle vorbereitet, die das πρέπον
<decorum> spielen sollte. Die Breite der Einführung der vierten
Kardinaltugend (§ 93ff.) paßt aber andererseits nicht zur redaktio-
nellen Gliederung von Ciceros de officiis. Hier wird die vierte Kar-
dinaltugend mit den anderen Kardinaltugenden im ersten Buch
zusammengefaßt, demnach als gleichrangig betrachtet. - Auf dieses
redaktionelle Problem sind wir schon eingegangen (S. 16/7). - Hier
fragen wir zunächst nach dem methodischen Aufbau von § 93ff.
Dabei müssen wir allerdings von vornherein mit großen Schwierig-
keiten rechnen; das zeigen die früheren Interpreten. Sie kommen ohne
Athetierungen, Umstellungen oder die Annahme von Autoren-
marginalien nicht aus14. Das sind starke Eingriffe und Änderungen
am überlieferten Text. Allen diesen Versuchen ist gemeinsam, daß
sie im Bereich der Textkritik bleiben15.
<decorum> auf der Hand. Beim <decorum> wird, wie wir sehen werden, der neue
Begriff breit eingeführt (§§ 93-96), systematisch entfaltet (§§ 97-99) und dann
(§ 100) wird die Pflicht davon abgeleitet. Von diesem Dreischritt (vgl. S. 52/3
dieser Arbeit) ist bei den ersten Paragraphen über die <magnitudo animi> nichts
festzustellen. Spätestens im § 62 beginnt die Erörterung der materiellen Pflicht:
<sed ea animi elatio, quae cernitur in periculis et laboribus, si iustitia vacat
pugnatque non pro salute communi, sed pro suis commodis, in vitio est.> An
diesem Punkt sind die Darlegungen beim <decorum> erst nach 8 Paragraphen
(§ 100 Mitte): <neque enim solum corporis, qui ad naturam apti sunt, sed multo
etiam magis animi motus probandi, qui item ad naturam accommodati sunt.>
14 So athetiert A. Schmekel (Die Philosophie der mittleren Stoa 1892, S. 37/38)
die Passagen §§ 94m-95m und §§ 97-98m. L. Labowsky, Der Begriff des prepon,
S. 7 und 8 stellt einen ganzen Satz im § 98 um. A. Goldbacher, Zur Kritik von
Ciceros Schrift de off. I, über den unvollendeten Zustand derselben, Sitz.-Ber.
d. Ak. d. Wiss. Wien 196. Bd., 3. Abh., 1921, S. 19f., will in § 95 den Vergleich <ut
venustas ... distinguitur> als eine ursprüngliche Randnotiz Ciceros aus § 98
zur späteren Einarbeitung ansehen, die aber nun so in den Text gekommen sei. -
Ähnlich an anderer Stelle Μ. Pohlenz, Antikes Führertum, 1934, S. 55, Anm. 1.
K. Atzert nahm bis zur 3. Auflage seiner Ausgabe von de off., Teubner 1958,
Randmarginalien an. Unter dem Einfluß von J. Brüsers Dissertation, Der
Textzustand von Cic. de off., Köln 1949, ist Atzert von dieser Annahme abge-
rückt. Gegen die These von Randmarginalien des Autors hatte S. Prete, La
teoria delle marginali d’autore e il testo critico del <de officiis> di Cicerone,
GIF 6, 1953, 35-50, schon Einwände erhoben. - Diese Fragen können hier nicht
behandelt werden. Daß die oben genannten Eingriffe bei einer Klärung von § 93
nicht nötig sind, wird die folgende Darstellung zeigen.
15 Auch das Eindringen von Autorenmarginalien in den ersten Kontext möchte
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Ausführlichkeit bei der Einleitung zur vierten Kardinaltugend über-
raschen. Doch dürfte die Breite dieser Einführung wohl zu den
Beobachtungen passen, die wir bei der Einführung des καλόν
<honestum> (1,14) machten. Dort sahen wir schon, daß Panaitios
diesem Bereich die größte Bedeutung beimaß (vgl. oben S. 21-23).
Es wurde schon dort die besondere Rolle vorbereitet, die das πρέπον
<decorum> spielen sollte. Die Breite der Einführung der vierten
Kardinaltugend (§ 93ff.) paßt aber andererseits nicht zur redaktio-
nellen Gliederung von Ciceros de officiis. Hier wird die vierte Kar-
dinaltugend mit den anderen Kardinaltugenden im ersten Buch
zusammengefaßt, demnach als gleichrangig betrachtet. - Auf dieses
redaktionelle Problem sind wir schon eingegangen (S. 16/7). - Hier
fragen wir zunächst nach dem methodischen Aufbau von § 93ff.
Dabei müssen wir allerdings von vornherein mit großen Schwierig-
keiten rechnen; das zeigen die früheren Interpreten. Sie kommen ohne
Athetierungen, Umstellungen oder die Annahme von Autoren-
marginalien nicht aus14. Das sind starke Eingriffe und Änderungen
am überlieferten Text. Allen diesen Versuchen ist gemeinsam, daß
sie im Bereich der Textkritik bleiben15.
<decorum> auf der Hand. Beim <decorum> wird, wie wir sehen werden, der neue
Begriff breit eingeführt (§§ 93-96), systematisch entfaltet (§§ 97-99) und dann
(§ 100) wird die Pflicht davon abgeleitet. Von diesem Dreischritt (vgl. S. 52/3
dieser Arbeit) ist bei den ersten Paragraphen über die <magnitudo animi> nichts
festzustellen. Spätestens im § 62 beginnt die Erörterung der materiellen Pflicht:
<sed ea animi elatio, quae cernitur in periculis et laboribus, si iustitia vacat
pugnatque non pro salute communi, sed pro suis commodis, in vitio est.> An
diesem Punkt sind die Darlegungen beim <decorum> erst nach 8 Paragraphen
(§ 100 Mitte): <neque enim solum corporis, qui ad naturam apti sunt, sed multo
etiam magis animi motus probandi, qui item ad naturam accommodati sunt.>
14 So athetiert A. Schmekel (Die Philosophie der mittleren Stoa 1892, S. 37/38)
die Passagen §§ 94m-95m und §§ 97-98m. L. Labowsky, Der Begriff des prepon,
S. 7 und 8 stellt einen ganzen Satz im § 98 um. A. Goldbacher, Zur Kritik von
Ciceros Schrift de off. I, über den unvollendeten Zustand derselben, Sitz.-Ber.
d. Ak. d. Wiss. Wien 196. Bd., 3. Abh., 1921, S. 19f., will in § 95 den Vergleich <ut
venustas ... distinguitur> als eine ursprüngliche Randnotiz Ciceros aus § 98
zur späteren Einarbeitung ansehen, die aber nun so in den Text gekommen sei. -
Ähnlich an anderer Stelle Μ. Pohlenz, Antikes Führertum, 1934, S. 55, Anm. 1.
K. Atzert nahm bis zur 3. Auflage seiner Ausgabe von de off., Teubner 1958,
Randmarginalien an. Unter dem Einfluß von J. Brüsers Dissertation, Der
Textzustand von Cic. de off., Köln 1949, ist Atzert von dieser Annahme abge-
rückt. Gegen die These von Randmarginalien des Autors hatte S. Prete, La
teoria delle marginali d’autore e il testo critico del <de officiis> di Cicerone,
GIF 6, 1953, 35-50, schon Einwände erhoben. - Diese Fragen können hier nicht
behandelt werden. Daß die oben genannten Eingriffe bei einer Klärung von § 93
nicht nötig sind, wird die folgende Darstellung zeigen.
15 Auch das Eindringen von Autorenmarginalien in den ersten Kontext möchte