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Gärtner, Hans Armin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1974, 5. Abhandlung): Cicero und Panaitios: Beobachtungen zu Ciceros "De officiis" ; vorgel. am 12. Jan. 1974 v. Viktor Pöschl — Heidelberg: Winter, 1974

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https://doi.org/10.11588/diglit.45448#0035
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Cicero und Panaitios

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mittelbar benachbarten Passage (1,14), in denen aus diesem allge-
meinen Vorzug des Menschen neben den Bestrebungen, die den
anderen drei Kardinaltugenden entsprechen, auch das Streben des
Menschen nach Schicklichkeit und Maß entfaltet wird. Beide Ge-
dankenentwicklungen (die des allgemeinen <honestum> und die des
<decorum>, 1,11 und 1,14) haben dort eine Parallele in der Bezugnahme
auf das <Wesen> (<naturae consentaneurm); auch darin entsprechen
die beiden Definitionen des § 96 den Gedanken bei der Einführung
des <honestum>. Man muß sich angesichts der aufgezeigten Parallelen
nun doch wirklich fragen, ob diese Definitionen des <decorum> in
§ 96 nicht eine bloße Kurzfassung der Gedanken sind, die wir von der
Einführung des <honestum> her schon kennen.
Die Definition des allgemeinen <decorum> könnte ohne weiteres
auch als Definition des <honestum> genommen werden33. Dagegen
bringt die Definition der <pars subiecta> etwas Neues. Das soll jetzt
gezeigt werden: Es gibt zwischen den beiden Definitionen einen
qualitativen Unterschied. Er manifestiert sich in <differat> und <appa-
reat>. Bei der Definition des <generale decorurm geht es um die
theoretische Erkenntnis, worin der Vorzug des Menschen vor dem
Tier besteht; bei der Definition der <pars subiecta> wird dagegen
vom In-Erscheinung-Treten der Mäßigung und Selbstbeherrschung
gesprochen, wobei noch die Haltung eines freien Menschen sichtbar
33 Vgl. Anm. 32 in ds. Kap. An dem Nebeneinander der beiden Definitionen hat man
sich schon früher gestoßen. A. Schmekel, Die Philosophie der mittleren Stoa
(1892), S. 37; H. Jungblut, Die Arbeitsweise Ciceros im ersten Buch über die
Pflichten, Beilage zum Programm des Lessing-Gymnasiums Frankfurt a.M. 1907
S. 59-63, und G. Ibscher, Der Begriff des Sittlichen in der Pflichtenlehre des
Panaitios, S. 99-102.
Jungblut macht sich allerdings unglaubwürdig, wenn er schreibt (S. 61), Cicero
könne den Unterschied (die <differentia> von § 94) nicht feststellen, weil er nicht
aufgemerkt habe, wie er in seiner Quelle festgelegt ist. Panätius’ Meinung träte
klarer hervor, wenn wir (in eben dem Cicerotext, Zufügung vom Verf.) weiter-
lesen! - Gegen seine Gleichsetzung der zweiten Definition des § 96 mit der
zweiten persona von § 107 vgl. Anm. 64 in ds. Kap.
G. Ibscher verspricht sich die Lösung des anstößigen Nebeneinanders der beiden
Definitionen vom Paragraphen 100. Zu ihm bemerkt sie mit Recht, daß in diesem
Paragraphen die vier Teile der <honestas>, auf die sich die zweite Definition
bezog, durchgesprochen werden. Dann aber hilft sie sich mit der Ver-
mutung weiter, die vier Einzeltugenden würden erwähnt, weil die Erfüllung des
zweiten <decorum> die Wahrung des ersten zur Voraussetzung hat. So etwas steht
nicht im § 100, wohl aber § 107. Dort aber findet sich keine Trennung in zwei
<decora>; vgl. S. 48 mit Anm. 64 in ds. Kap.
G. Picht, Die Grundlagen der Ethik des Panaitios, Diss. Freiburg 1943, geht
S. 73ff. ebenfalls auf das Problem ein. Allerdings weist er das allgemeine πρέπον
schon dem Panaitios zu.

3 Gärtner, Cicero und Panaitios
 
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