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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0011
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Euripides’ Medea

9

Dieselbe Konstellation zu verdeutlichen, hat der Expressionist Hans
Henny Jahnn vor etwa 50 Jahren Medea als Negerin auf die Bühne ge-
bracht. Der Amerikaner Robinson Jeffers veröffentlichte 1946 ein Me-
dea-Drama, in dem eine einfache, unverdorbene, zu elementarem Fühlen
befähigte Frau durch ein dekadent-neurotisches Großstadt-Milieu zu
Verbrechen und Mord getrieben wird. Corrado Alvaro läßt in seinem
Drama 'La lunga notte di Medea’ die Heldin den Mord nicht etwa zur
Bestrafung Jasons vollziehen: Sie will den Kindern nur das Schicksal ver-
achteter refugies ersparen, wie es sich 1949, im ersten Aufführungsjahr
des Stückes, so unendlich oft realisierte.
Auch für diesen Traditionsstrang gibt es Anknüpfungspunkte bei
Euripides: Wieder und wieder beklagt sich Medea über die für den Bar-
baren unfaßbare Unwahrhaftigkeit des zivilisierten Hellenen7, und ihre
von der Tradition vorgegebene Zauberkunst konnte schon ein griechi-
sches Publikum ebensowohl mit ihrer göttlichen Abkunft wie mit ihrer
barbarischen Herkunft assoziieren. Zauberkundige Hexen kamen in
griechischen Augen entweder aus exotischen Ländern oder aus dem
rückständig-bäuerlichen Thessalien8.
3) Die dritte, in der europäischen Bühnendichtung am weitesten ver-
breitete Deutung Medeas und ihrer Tat gründet sich auf psychologische
Erfahrungen viel allgemeinerer Art. Das Übermaß hingebungsvoller
Liebe, dessen Medeas große und leidenschaftliche Natur fähig ist, wird
zunächst darin sichtbar, daß sie sich nicht scheut, Verrat und Verbre-
chen auf sich zu häufen, wo es um das Wohl des Geliebten geht. Dieses
Übermaß an Liebe aber verkehrt sich in Eifersucht und Haß in dem
Augenblick, da sie sich von Jason verraten und verlassen sieht. Die der-
art pervertierte Leidenschaft erweist sich in ihrer zerstörerischen Kraft
als stärker denn alle Erwägungen des Verstandes, der sich an allgemein
anerkannten vernunftgemäßen Normen des Handelns zu orientieren
sucht. Zwar ist Medea an Verstandeskraft allen Personen ihrer Um-
welt überlegen: Gerade dieses integrierende Detail ihrer großen Natur
steht schon bei Euripides ganz im Vordergrund. Aber in der gegebenen
Situation vermag dieser überlegene Verstand nur noch Medeas Be-
wußtsein, nicht mehr ihre Handlungsweise zu bestimmen. In der Be-
wußtheit, mit der sie dann das eigene, ganz und gar von ihrer Leiden-
schaft gelenkte Tun erleidet, liegt darum Medeas tragisches Schicksal.
Als Leidenschaftstragödie in dem angedeuteten Sinn hat schon das
früheste, uns in ein paar Fragmenten faßbare nacheuripideische Drama,
die 'Medea’ des Neophron aus dem 4. Jh., zu gelten9. Ebenso die viel-
bewunderte und -nachgeahmte 'Medea’ Senecas, die vermutlich der
 
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