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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0012
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Albrecht Dihle

leider verlorenen gleichnamigen Tragödie Ovids ähnelt. Medeas Leiden-
schaft steht im Zentrum des Medea-Briefes in Ovids Heroides, des
Medea-Epos des Dracontius und eines aus Vergilversen zusammenge-
stellten Medea-Dramas spätantiker Zeit. Dasselbe gilt für die groß-
artige 'Medee’ Corneilles von 1635, für seinen Nachahmer Longe-
pierre, dessen Drama auf 1694 datiert ist, für die zwei italienischen
(Dolce, Galladei) und die französische (de Laperuse) Medea-Tragödie
des 16. Jh., unbeschadet der Tatsache, daß sie sich z. T. näher an Seneca,
z.T. näher an Euripides halten. Leidenschaft ist das Leitmotiv im Li-
bretto der Medea-Oper Cherubinis von 1796, in Gotters 'Medea’ von
1775, Clements 'Medee’ von 1779, sowie in zahlreichen französischen
und deutschen Bearbeitungen des Stoffes zwischen 1814 und 1910!θ.
Natürlich ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß sich
das Motiv zerstörerischer, alles überschwemmender Leidenschaft mit
dem der halbgöttlichen Natur Medeas ebenso verbinden läßt wie mit
dem ihres Barbarentums. Darum braucht auch nicht zu verwundern,
daß gelegentlich durchaus das Verhältnis direkter Abhängigkeit zwi-
schen zwei Medea-Tragödien nachweisbar ist, die wir soeben in verschie-
dene Gruppen eingeordnet haben11. Die zerstörerische Leidenschaft
einer Barbarin kann genau so unwiderstehlich, vom disziplinierenden
Verstand unerreichbar sein wie die einer Dämonin. Trotzdem darf man
wohl sagen, daß uns keines der Medea-Dramen darüber im Unklaren
läßt, ob der Dichter zuvörderst die Leidenschaft eines Dämons, einer
Barbarenseele oder eines zu übergroßer Liebe fähigen Menschenherzens
für die Katastrophe verantwortlich macht, auch dort, wo er alle drei Mo-
tive nebeneinander benutzt, wie es Euripides getan hat. Daß aber die
letztgenannte Deutung, nach der das tragische Geschehen durch die zwar
ungewöhnliche und überstarke, im Grunde aber für jedermann erfahr-
bare Regung einer Menschenseele ausgelöst wird, auf der europäischen
Bühne dominiert, leidet keinen Zweifel.
Man kann sich das an einigen gleichsam kumulativen Veränderungen
im Medea-Stoff klar machen, die sich in der Geschichte der Medea-
Dramen nachweisen lassen. Ein Beispiel sei hier genannt.
Bei Euripides wird Medea mit ihren Kindern des Landes verwiesen,
als Jasons Hochzeit mit der korinthischen Königstochter unmittelbar
bevorsteht. Daß Medea dann den Kindern ein Bleiben erwirkt, ist bereits
Teil ihres Racheplanes. In den meisten der Medea-Dramen seit Seneca
trifft die Verbannung Medea allein. Einige der Späteren haben diesen
Zug dahin verschärft, daß sich die Kinder sogar von sich aus der Stief-
mutter, der Braut des ungetreuen Jason12, zuwenden. Medea ist zugleich
 
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