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Albrecht Dihle
wisse. Schon vor 30 Jahren hat Bruno Snell15 auf diesen zeitlichen Zu-
sammenhang hingewiesen, freilich daraus kaum beweisbare Konsequen-
zen auf einen veritablen Dialog zwischen Euripides und Sokrates ge-
zogen.
Es kann auf Grund der Zeugnisse aus der dramatischen und außer-
dramatischen Literatur kein Zweifel daran bestehen, daß man Euripides’
Medea-Tragödie von Anfang an, d. h. seit dem 4. Jh. v. C., primär als
Drama der Leidenschaft verstand. Dieses Verständnis gilt bis heute un-
bestritten und wird durch Szenen, in denen die Heldin im Zustand höch-
ster Erregung auftritt, etwa am Anfang des Dramas, auch sehr nahe ge-
legt. The emotions of the woman whose love has turned to hatred . . .
represents something eternal and unchangeable in human nature; here
we find, what in great drama we must always seek, the universal in this
particular, schreibt der letzte Kommentator des Stückes, Denys Page.
Euripides selbst scheint diese Deutung unmißverständlich mitgeliefert
zu haben. In epigrammatischer Zuspitzung läßt er Medea am Ende des
großen Monologes sagen:
καί μανθάνω μέν οία δράν μέλλω κακά,
θυμός δέ κρείσσων των έμών βουλευμάτων
δσπερ μεγίστων αίτιος κακών βροτοΐς
„Ich werde gewahr, wie schlimm ich mich zu verhalten anschicke, aber
meine Gefühle und Leidenschaften sind stärker als meine Pläne, was
für die Sterblichen die Ursache größter Übel ist.“ Die an Chrysipp an-
knüpfende Diskussion hat diese Stelle, der ein ähnlicher Passus im
'Hippolytos’ des Euripides16 zu entsprechen schien, zu einem locus
classicus erhoben, in dem Sinn, daß hier die Fehlhandlung aus Leiden-
schaft (θυμός) wider besseres Wissen (βουλεύματα) so deutlich wie nir-
gends sonst beschrieben sei, und zwar an einem so spektakulären Bei-
spiel wie der Ermordung der Kinder durch die eigene Mutter.
Die gemein griechische, von den meisten Philosophenschulen über-
nommene und bis in die Barockzeit unbestrittene Psychologie schien
damit eindrucksvoll dokumentiert. Der Verstand hat die irrationalen
Triebkräfte der Seele zu lenken und das Handlungsziel zu bestimmen.
Gelingt ihm das nicht, läßt er sich von Trieben und Leidenschaften bei-
seite drängen, ist verkehrtes Handeln die unumgängliche Folge, die der
ausmanövrierte Verstand zur eigenen Beschämung selbst vorauszu-
sagen vermag.
Albrecht Dihle
wisse. Schon vor 30 Jahren hat Bruno Snell15 auf diesen zeitlichen Zu-
sammenhang hingewiesen, freilich daraus kaum beweisbare Konsequen-
zen auf einen veritablen Dialog zwischen Euripides und Sokrates ge-
zogen.
Es kann auf Grund der Zeugnisse aus der dramatischen und außer-
dramatischen Literatur kein Zweifel daran bestehen, daß man Euripides’
Medea-Tragödie von Anfang an, d. h. seit dem 4. Jh. v. C., primär als
Drama der Leidenschaft verstand. Dieses Verständnis gilt bis heute un-
bestritten und wird durch Szenen, in denen die Heldin im Zustand höch-
ster Erregung auftritt, etwa am Anfang des Dramas, auch sehr nahe ge-
legt. The emotions of the woman whose love has turned to hatred . . .
represents something eternal and unchangeable in human nature; here
we find, what in great drama we must always seek, the universal in this
particular, schreibt der letzte Kommentator des Stückes, Denys Page.
Euripides selbst scheint diese Deutung unmißverständlich mitgeliefert
zu haben. In epigrammatischer Zuspitzung läßt er Medea am Ende des
großen Monologes sagen:
καί μανθάνω μέν οία δράν μέλλω κακά,
θυμός δέ κρείσσων των έμών βουλευμάτων
δσπερ μεγίστων αίτιος κακών βροτοΐς
„Ich werde gewahr, wie schlimm ich mich zu verhalten anschicke, aber
meine Gefühle und Leidenschaften sind stärker als meine Pläne, was
für die Sterblichen die Ursache größter Übel ist.“ Die an Chrysipp an-
knüpfende Diskussion hat diese Stelle, der ein ähnlicher Passus im
'Hippolytos’ des Euripides16 zu entsprechen schien, zu einem locus
classicus erhoben, in dem Sinn, daß hier die Fehlhandlung aus Leiden-
schaft (θυμός) wider besseres Wissen (βουλεύματα) so deutlich wie nir-
gends sonst beschrieben sei, und zwar an einem so spektakulären Bei-
spiel wie der Ermordung der Kinder durch die eigene Mutter.
Die gemein griechische, von den meisten Philosophenschulen über-
nommene und bis in die Barockzeit unbestrittene Psychologie schien
damit eindrucksvoll dokumentiert. Der Verstand hat die irrationalen
Triebkräfte der Seele zu lenken und das Handlungsziel zu bestimmen.
Gelingt ihm das nicht, läßt er sich von Trieben und Leidenschaften bei-
seite drängen, ist verkehrtes Handeln die unumgängliche Folge, die der
ausmanövrierte Verstand zur eigenen Beschämung selbst vorauszu-
sagen vermag.