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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0017
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Euripides’ Medea

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ganz anders: Wäre sie ihrem θυμός gefolgt, hätte sie nicht Hand an die
eigenen Kinder gelegt.
6. Als Medea am Ende des Stückes ankündigt, die Kinder nunmehr
wirklich zu töten, ist mit keinem Wort von der Rache, von der Befriedi-
gung ihres Hasses oder dgl. die Rede. Vielmehr faßt sie den endgültigen
Entschluß nur, weil der ingeniös konzipierte und eingefädelte Mordplan
bereits zur Hälfte ausgeführt ist: Kreon, der König des Landes, und seine
Tochter, die Braut des ungetreuen Jason, haben durch die vergifteten
Brautgaben Medeas ein schreckliches Ende gefunden. Die Wut der Ko-
rinther richtet sich gegen Medeas Kinder, die Überbringer der Gaben. Sie
würden, so muß sich Medea sagen, von einer „feindlicheren Hand“
(δυσμενεστέρμ χειρί) das Leben verlieren, wenn die Mutter sie nicht
tötet. Alles ist jetzt schiere Notwendigkeit (άνάγκη), unabhängig vom
Wünschen und Trachten Medeas25.
7. Am Schluß des großen Monologes, der bei Euripides - anders als bei
seinen Nachfolgern - dem Mord gerade nicht unmittelbar vorausgeht,
glaubt jedenfalls der Chor keineswegs, daß Medea die Kinder töten
werde. Er versteht die späterhin so berühmten Verse durchaus nicht als
Ankündigung der Tat. Während die Frauen nach der ersten Enthüllung
des Racheplans alle Überredungskunst aufbieten, um Medea von dem
Mord an den Kindern abzubringen und am Schluß des Stückes in helle
Verzweiflung ausbrechen, als Medea ihren nunmehr endgültigen Ent-
schluß ausspricht26, ist die Reaktion auf Medeas großen, in den zitierten
Versen gipfelnden Monolog ganz andersartig: In zarten, zurückhalten-
den, sehr allgemeinen und taktvollen Worten singt der Chor von Bürde
und Leiden der Mutterschaft, wie sie jetzt Medea zu tragen hat. Als Re-
aktion auf eine Ankündigung, die Kinder töten zu wollen, wäre dieses
schöne, tiefsinnige Lied ganz und gar unverständlich27.
Das hier vorgetragene Verständnis des großen Monologes als eines
aufschiebenden Elementes im dramatischen Geschehen und die Über-
setzung der berühmten Schlußverse als Eingeständnis der Medea, zu
der geplanten Tat unfähig zu sein, bedarf natürlich der Überprüfung an
vielen Textstellen im ganzen Verlauf des Stückes. Dafür sei auf die An-
merkungen verwiesen.
Viel wichtiger aber ist die Frage, was wir, die Richtigkeit der neuen
Interpretation einmal vorausgesetzt, vom Wesen und Charakter der
euripideischen Medea halten sollen. Wie erklärt sich ihre Tat, wenn sie
nicht Ausfluß einer alles verzehrenden Leidenschaft ist?
Es kann natürlich gar kein Zweifel daran bestehen, daß Euripides
seine Heldin mit großer Kraft zur Leidenschaft ausgestattet hat. Vor
 
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