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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0042
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Albrecht Dihle

für die zerrissene Seele einer Mutter auszusprechen. Die abschließende Aussage,
daß zuweilen das Schicksal (δαίμων) den schlimmsten Schmerz (λύπην άνιαρό-
τατον), den Tod der Kinder, bereithalte, ist durchaus topisch (vgl. Eur. Suppl.
786ff.) und vollendet das Gemälde von den vielen Sorgen und Nöten derer, die das
γλυκερόν βλάστημα (1099) lieben. Es wären diese Worte mehr als deplaziert,
wenn der Chor dabei an die Tötung der Kinder durch die eigene Mutter dächte,
auf die er doch, jedenfalls für die Ohren des Zuschauers, unwillentlich hinweist.
Wie man in den Versen 1081-1115 Ironie finden kann (H. Musurillo, Am. Journ.
Phil. 87, 1966, 62), läßt sich schwer begreifen. Indessen muß man bedenken, daß
schon die antiken Euripides-Erklärer unter dem Eindruck der gängigen Inter-
pretation der Schlußverse des großen Monologes standen, derzufolge Medea dort
den endgültigen Entschluß zur Tat verkündet. Unter dieser Voraussetzung wußte
der Scholiast zu 1082 begreiflicherweise mit dem ganzen Lied nichts anzufangen
und erklärte es, sehr willkürlich und gegen Wortlaut und Ethos des Textes, als
Abmahnung von der geplanten Tat.
28 Erregung und Verstörung Medeas mit ihren Ursachen werden zunächst im Pro-
log von der Amme beschrieben (20-37). Dabei fallt bereits eine Andeutung, daß
ihr aus der Enttäuschung über die Untreue Jasons erwachsener Haß sich auch auf
die Kinder richtet (36). Daran knüpft sich die Befürchtung, Medea könnte
Schlimmes planen (37 μή τι βουλεύση νέον). Entsprechend schließt das folgende
Gespräch /wischen Amme und Pädagog mit der Mahnung, die Kinder der Mutter
(μητρί δυσθυμουμένη 91) fernzuhalten. Die ausgedehnte Gesangsszene, die das
Auftreten Medeas bringt, spart nicht an starken Ausdrücken für den erregten
Gemütszustand Medeas, sowohl in ihren eigenen Worten als auch in beschreiben-
den Aussagen ihrer Partner (κινεί κραδίαν, κίνει χόλον 99; άγριον ήθος, στυγερά
φύσις φρενός αύθάδους 103Ε; μείζων θυμός 108; χόλος 171; βαρύθυμος όργά
176 u.a.m.). Wiederum erfährt der Zuschauer, diesmal aus dem Munde Medeas,
daß sich ihr Haß auch gegen die Kinder des Treulosen richtet und in den Selbst-
haß der Gekränkten umschlägt: ώ κατάρατοι παΐδες ύλοισθε στυγερας ματρός
σύν πατρί, καί πας δόμος έρροι (112-114). An der emotionalen Verfassung Me-
deas und der daraus erwachsenden Gefahr für die Kinder läßt also der Dichter am
Anfang des Stückes keinen Zweifel.
Freilich, schon in der ersten großen Anrede an die Frauen des Chores zeigt
Medea sich, bei aller Bitterkeit, von erstaunlicher Beherrschung und vermag auf
Grund ihrer Erfahrung mit Klarheit auf das Schicksal der Frauen schlechthin und
auf ihr eigenes zu reflektieren (214ff.). Nur der drohende Unterton am Ende ihrer
Betrachtung, wenn sie die Gefährlichkeit der betrogenen Frau apostrophiert, ver-
rät ihre Erregung (264-66). Indessen ist diese Aussage bereits mit der von klarer
Überlegung zeugenden Bitte an den Chor verbunden, Stillschweigen zu bewahren,
damit jedenfalls noch die Zeit bleibe, Vergeltung an Jason zu üben (259ff.).
In der folgenden Unterredung mit König Kreon vollends zeigt sie sich als
Herrin der Lage. Obwohl ihr Kreon mit dem Verbannungsdekret einen neuen, un-
erwarteten Schlag versetzt, gelingt es ihr, von dem gerade angesichts ihres fehlen-
den Widerspruchs mißtrauischen König (306f.) den Aufschub zu erwirken, der
die erste Voraussetzung für eine Rache ist.
Die Ziellosigkeit der wilden Rachegedanken, die sie in der langen Rede nach
Kreons Fortgang (364-409) äußert, verdeutlicht, ebenso wie das bald darauf fol-
gende Streitgespräch mit Jason (446-626) den durchaus anhaltenden Erregungs-
 
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