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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0043
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Euripides’ Medea · Anmerkungen

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zustand Medeas. Aber beide Partien bezeugen auch schon den Übergang zu ra-
tionaler Rechtfertigung und Gestaltung (Μήδεια βουλεύουσα καί τεχνωμένη
402) des Racheplans. In der Rede taucht erstmals der dann oft wiederholte Ge-
danke auf, daß es um ihre Ehre geht und sie nicht zum Gespött ihrer Feinde wer-
den dürfe. Er klingt 383 zum ersten Mal an und beschließt in breiter Ausführung
404-409 ihre Rede. Nach der Tat, nach allen inneren Kämpfen und Leiden, wird
Medea in der Schlußauseinandersetzung mit Jason auf eben diese Weise ihr Tun
rechtfertigen (1355-1360; 1362). Es kann also keine Rede davon sein, daß Medeas
Verstand sich nur im Planen und Bewerkstelligen bewähre, in der Kontrolle der
Emotionen und damit vor der sittlichen Entscheidung aber versage. Die Option
für den Ehrenkodex, der das Rachewerk fordert, geschieht durch die Vernunft,
wenn auch die emotionelle Disposition deutlich genug hervorgehoben wird.
Auch noch im ersten Streitgespräch mit Jason (446-626) fehlt es auf Seiten
Medeas zwar nicht an Emotion, aber Ziel des Dialogs ist viel eher die intellek-
tuelle Überwindung des Gegners, die Behauptung des eigenen Standpunktes.
Jason muß den Sieg Medeas in diesem Ringen wider Willen zugeben. Das letzte
Wort, das er spricht, ist αύθαδία (621), womit der nach den Vorstellungen der Zeit
als spezifisch männlich empfundene Selbstbehauptungswille, die für das mensch-
liche Zusammenleben durchaus negativ bewertete (vgl. 223) Egozentrizität eines
Menschen und seine Verschlossenheit gegenüber den Bedürfnissen und der Zu-
wendung anderer gemeint sind.
Die beiden großen Gespräche mit Kreon (271-356) und Aigeus (663-758), stel-
len Medeas intellektuelle Leistung ins hellste Licht. Aus der Position der Schwa-
chen und Gefährdeten veranlaßt sie sowohl ihren mächtigen Gegenspieler als auch
einen an ihrem Geschick unmittelbar Unbeteiligten zur Mitwirkung an ihrem
Rachewerk, ohne daß diese es bemerken. Die beiden Gespräche rahmen gleichsam
den Teil des Dramas ein, in dessen Verlauf Medeas aggressive Emotionen, die ge-
wiß als Voraussetzung der gesamten Handlung bestehen bleiben, als unmittelbar
das Geschehen auslösende und bestimmende Kraft durch den planenden Ver-
stand ersetzt werden. Dieser aber beruft sich auf die ganz bewußt gemachten Re-
geln eines Ehrenkodex. Es ist darum nur folgerichtig, daß Medea den detaillierten
Racheplan samt seiner moralischen Begründung unmittelbar im Anschluß an den
Dialog mit Aigeus darlegt (764—823). Die Trugszene (866ff.), in der Medeas über-
legener Verstand sogar Jason, das Objekt ihrer Rache, zum Mithelfer macht, ge-
hört einerseits schon zur Durchführung des 765ff. angekündigten Planes, anderer-
seits krönt sie in der Folge der beiden Gespräche mit Kreon (271ff.) und Aigeus
(663 ff.) die Demonstration der überlegenen Intelligenz Medeas.
Mit der so bewirkten Verschiebung der direkten Motivation der Handlungen
Medeas von όργή und χόλος zu den βουλεύματα wird der Weg frei, den Teil der
emotionalen Persönlichkeit Medeas in den Vordergrund zu rücken, der dem Rache-
werk widerstrebt und für den Euripides nunmehr vorzugsweise die Wörter θυ-
μός und καρδία verwendet (s.o. S. 30). Es ergibt sich daraus ein Widerstreit zwi-
schen „reason and passion“ in genau umgekehrtem Sinn als ihn Anne Burnett
(s.o. S. 29) glaubte bestreiten zu müssen. Dem Appell an Medeas θυμός, mit dem
der Chor 865 den grauenvollen Plan beantwortet, kommt also programmatische
Bedeutung zu. Erst auf der damit erreichten neuen Ebene im Widerstreit der Mo-
tive entwickelt sich das ,,Seelendrama“, das dieser Tragödie zu ihrem Ruhm ver-
hülfen hat.
 
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