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Albrecht Dihle
Freilich, man darf nicht übersehen, daß nach der Tat beide emotionalen Fak-
toren, Eifersucht und Haß auf der einen, Mutterliebe auf der anderen, zurück-
treten. Der Triumph Medeas im Schlußgespräch mit Jason gründet sich darauf,
daß sie durch das Rachewerk ihre Ehre zu wahren wußte und niemand ungestraft
ihrer spotten durfte (1351-57). Die emotionale Vehemenz, mit der sie die Rache
durchführte, erscheint nach ihren Worten ganz als Folge des Umstandes, daß es
um ihre Ehre ging (1358-60 προς ταΰτα καί λέαιναν, εί βούλη, κάλει). Die Ein-
seitigkeit, mit der Medea diesen Standpunkt vertritt, führt noch weiter. Auf Ja-
sons Einwand, Medea habe sich mit ihrer Rache doch auch selbst getroffen und
teile jetzt sein Leid, hat sie nur die schneidende Antwort σάφ’ ΐσθι- λύει δ’ άλγος,
ήν συ μή ’γγελάς (1362). Das widerspricht geradezu Medeas Aussage unmittelbar
vor dem Mord, daß sie die Tat jetzt vollbringen und dann trauern müsse (κάπειτα
θρήνει 1249). Es paßt aber zu der Starre, mit der sie in den letzten 40 Versen auf
Jasons verzweifelte Bitten reagiert und Begräbnis und Heroisierung der toten Kin-
der ankündigt (vor allem 1378ff.). In diesem letzten Abschnitt der Tragödie voll-
endet sich Medeas Identifikation mit dem Kriegerideal, dem sie durch ihre Tat
gegen die Impulse ihres Mutterherzens Genüge getan hat. Ihre Muttergefühle sind
nicht einfach abgetötet, denn sie bringt sie gegenüber dem Ausdruck entsprechen-
der Empfindungen in den Worten Jasons durchaus zur Geltung (1397 Jason:
ώ τέκνα φίλτατα. Medea: μητρί γε, σοί δ’ οϋ), aber sie treten zurück, wenn Medea
in den mit menschlichen Kategorien nicht mehr faßbaren Zustand heroischer
Größe eingeht, zu der sie Kampf und Leid - und nicht nur göttliche Abkunft -
qualifiziert.
29 807ff. μηδείς με φαύλην κάσθενή νομιζέτω
μηδ’ ήσυχαίαν, άλλα θατέρου τρόπου,
βαρεΐαν έχθροΐς καί φίλοισιν ευμενή ·
τών γάρ τοιούτων ευκλεέστατος βίος.
Dieses Ideal wird z. Β. von Archilochos (23,14f. West) und Solon (13,5 West)
als das eines rechten Kriegers und Mannes in Anspruch genommen. Die ent-
sprechende Lebensregel begegnet bei Homer (ζ 184), Sappho (5,6 Lobel-Page),
Alkaios (348 Lobel-Page mit dem Vorwurf der άχολία), Theognis (59f.), aber auch
bei Hesiod (Op. 353ff.), in der Tragödie (Eur. Here. 585; 732; Io 1046; Hec. 844f.,
1250), bei Demokrit (B 193), Gorgias (Palam. 18), Xenophon (Mem. 2.2.14;
2,6,24), den attischen Rednern (Ps. Lys. 6,7; vgl. A. Dihle, Die Goldene Regel,
Göttingen 1962, 32 f. und H. Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Grie-
chentums, München 1962, 459). Platons Einspruch gegen diese Maxime (Gorg.
507B; Men. 71 E; Rep. 332E-334C u.ö.) ist zwar nicht ganz ohne Anknüpfungs-
punkte in der älteren Denkweise (Theogn. 1079f. mit der Mahnung, auch dem
Feind verdientes Lob nicht zu versagen, vgl. dazu Fränkel a.a.O. 474f.), richtet
sich aber gegen eine tief verwurzelte und weit verbreitete Meinung vom Verhalten
eines rechten Mannes. Erst die Herauslösung von Gut und Schlecht aus der Ver-
flechtung in die einzelne Situation, erst die ontologische Bestimmung des άδικεϊν
mit Hilfe der Bezugnahme auf den intelligiblen Charakter der Realität führten
zur prinzipiellen Verwerfung dieser moralischen Vorschrift (vgl. Dihle a.a.O.
61 ff.).
Nach der herkömmlichen Ansicht trifft vor allem die feige Untätigkeit, die mit
dem Verzicht auf Vergeltung im Bösen einhergeht, der moralische Makel, und
Albrecht Dihle
Freilich, man darf nicht übersehen, daß nach der Tat beide emotionalen Fak-
toren, Eifersucht und Haß auf der einen, Mutterliebe auf der anderen, zurück-
treten. Der Triumph Medeas im Schlußgespräch mit Jason gründet sich darauf,
daß sie durch das Rachewerk ihre Ehre zu wahren wußte und niemand ungestraft
ihrer spotten durfte (1351-57). Die emotionale Vehemenz, mit der sie die Rache
durchführte, erscheint nach ihren Worten ganz als Folge des Umstandes, daß es
um ihre Ehre ging (1358-60 προς ταΰτα καί λέαιναν, εί βούλη, κάλει). Die Ein-
seitigkeit, mit der Medea diesen Standpunkt vertritt, führt noch weiter. Auf Ja-
sons Einwand, Medea habe sich mit ihrer Rache doch auch selbst getroffen und
teile jetzt sein Leid, hat sie nur die schneidende Antwort σάφ’ ΐσθι- λύει δ’ άλγος,
ήν συ μή ’γγελάς (1362). Das widerspricht geradezu Medeas Aussage unmittelbar
vor dem Mord, daß sie die Tat jetzt vollbringen und dann trauern müsse (κάπειτα
θρήνει 1249). Es paßt aber zu der Starre, mit der sie in den letzten 40 Versen auf
Jasons verzweifelte Bitten reagiert und Begräbnis und Heroisierung der toten Kin-
der ankündigt (vor allem 1378ff.). In diesem letzten Abschnitt der Tragödie voll-
endet sich Medeas Identifikation mit dem Kriegerideal, dem sie durch ihre Tat
gegen die Impulse ihres Mutterherzens Genüge getan hat. Ihre Muttergefühle sind
nicht einfach abgetötet, denn sie bringt sie gegenüber dem Ausdruck entsprechen-
der Empfindungen in den Worten Jasons durchaus zur Geltung (1397 Jason:
ώ τέκνα φίλτατα. Medea: μητρί γε, σοί δ’ οϋ), aber sie treten zurück, wenn Medea
in den mit menschlichen Kategorien nicht mehr faßbaren Zustand heroischer
Größe eingeht, zu der sie Kampf und Leid - und nicht nur göttliche Abkunft -
qualifiziert.
29 807ff. μηδείς με φαύλην κάσθενή νομιζέτω
μηδ’ ήσυχαίαν, άλλα θατέρου τρόπου,
βαρεΐαν έχθροΐς καί φίλοισιν ευμενή ·
τών γάρ τοιούτων ευκλεέστατος βίος.
Dieses Ideal wird z. Β. von Archilochos (23,14f. West) und Solon (13,5 West)
als das eines rechten Kriegers und Mannes in Anspruch genommen. Die ent-
sprechende Lebensregel begegnet bei Homer (ζ 184), Sappho (5,6 Lobel-Page),
Alkaios (348 Lobel-Page mit dem Vorwurf der άχολία), Theognis (59f.), aber auch
bei Hesiod (Op. 353ff.), in der Tragödie (Eur. Here. 585; 732; Io 1046; Hec. 844f.,
1250), bei Demokrit (B 193), Gorgias (Palam. 18), Xenophon (Mem. 2.2.14;
2,6,24), den attischen Rednern (Ps. Lys. 6,7; vgl. A. Dihle, Die Goldene Regel,
Göttingen 1962, 32 f. und H. Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Grie-
chentums, München 1962, 459). Platons Einspruch gegen diese Maxime (Gorg.
507B; Men. 71 E; Rep. 332E-334C u.ö.) ist zwar nicht ganz ohne Anknüpfungs-
punkte in der älteren Denkweise (Theogn. 1079f. mit der Mahnung, auch dem
Feind verdientes Lob nicht zu versagen, vgl. dazu Fränkel a.a.O. 474f.), richtet
sich aber gegen eine tief verwurzelte und weit verbreitete Meinung vom Verhalten
eines rechten Mannes. Erst die Herauslösung von Gut und Schlecht aus der Ver-
flechtung in die einzelne Situation, erst die ontologische Bestimmung des άδικεϊν
mit Hilfe der Bezugnahme auf den intelligiblen Charakter der Realität führten
zur prinzipiellen Verwerfung dieser moralischen Vorschrift (vgl. Dihle a.a.O.
61 ff.).
Nach der herkömmlichen Ansicht trifft vor allem die feige Untätigkeit, die mit
dem Verzicht auf Vergeltung im Bösen einhergeht, der moralische Makel, und