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Beierwaltes, Werner; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1978, 1. Abhandlung): Visio absoluta: Reflexion als Grundzug des göttlichen Prinzips bei Nicolaus Cusanus ; vorgetragen am 5. 11. 1977 — Heidelberg: Winter, 1978

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https://doi.org/10.11588/diglit.45467#0022
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Werner Beierwaltes

Darin gerade unterscheidet sich der cusanische Begriff der absoluten
Einheit vom neuplatonischen Begriff des 'Einen selbst’: Abgesehen von
dem Versuch Plotins, Denken oder Reflexion in den Begriff des Einen
selbst hypothetisch einzuführen, ist dieses Eine differenzlos, analog dem
unaufgeschlossenen Punkt zu denken, das zwar dasjenige „irgendwie“
haben oder sein muß, dessen Grund es ist, in das jedoch jeder Versuch
einer Aussage hierüber Vielheit und damit Differenz brächte. Diejenige
Einheit hingegen, die durch Reflexion sich und zugleich alles aus ihr
Entspringende umfaßt, ist in gewisser Weise - zumindest im strikten
neuplatonischen Sinne - Vielheit oder durch Differenz bestimmt, -
Einheit in oder trotz der Differenz. Durch die Transformation des
Prinzip-Begriffs und des neuplatonischen Einen im besonderen durch
die christliche Theologie wurde auch der Begriff der Einheit modifiziert.
Denken mußte der Einheit zukommen, wenn sie zugleich Logos, Ver-
bum, Sapientia sein sollte30. So konstituierte sich ein Begriff von Ein-
heit, der trotz des reflexiven Selbstaufschlusses und trotz dessen Rück-
führung in den Anfang eben dieses Aktes, als Nicht-Vieles oder Nicht-
„Differentes“ vor jeder Vielfalt und Differenz begriffen werden soll,
was wiederum dem neuplatonischen Begriff des Einen als erstem Prin-
zip durchaus entspräche: Der innere Selbstaufschluß des Prinzips be-
gründet keine Vielheit, die durch ein reales Auseinander bestimmt wäre,
sondern vollzieht gerade die Einheit, die sich durch ihre eigene Unter-
scheidung selbst begreift, dadurch aber nicht ihr Wesen durch Diffe-
renzierung aufhebt. Was eine Frage der Sprachregelung zu sein scheint,
zeigt ein gravierendes Sachproblem an. Dies wird insbesondere bei der
genaueren Beschreibung der jetzt schon angedeuteten trinitarischen
Einheit deutlich werden.
Von diesem neuen, durch christliche Theologie bestimmten Begriff
von Einheit her mag es zunächst erstaunlich anmuten, wenn Cusanus
gerade aus dem Parmenides-Kommentar des Proklos seinen eigenen
Begriff des Einen Prinzips in wesentlichen Zügen zu begründen versucht;
Proklos nämlich hat noch nicht einmal hypothetisch das Denken als
einen Wesensakt des Einen erwogen. Daß die Erörterung des Begriffs
30 Allerdings hat Porphyrios - anders als Plotin und Proklos - das Eine als Sein
und als ein objektloses Sehen, eine in höchstem Maße in sich einige yvcbcnq
gedacht: in Parm. V 34 (ed. P. Hadot, in Porphyre et Victorinus, Paris 1968,
Bd. II). XII lff. XIII 1: ß^ETtEt eoütöv. 7. 35: öqöv. XIV 20: fianröv iöstv als
Leben des voug, welches als das zeitfreie Geschehen der „Selbstkonstitution“
der Einheit zu begreifen ist.
 
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