Visio absoluta
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über sich hinausweisende Moment im amor inextinguibilis’ zum Einen
selbst; es wird in uns sozusagen zum Modell, an dem begriffen werden
kann, was das Eine in sich ist und nicht ist. Die Negation als bewuß-
tes Eingeständnis des notwendigen, weil in der Sache selbst gründen-
den Versagens des endlichen Begriffs ist deshalb wesenhafter Ausdruck
einer 'docta ignorantia’.
II
Das hauptsächliche Interesse unserer bisherigen Überlegungen galt
der inneren Struktur des absoluten Sehens. Dabei deutete sich bisweilen
auch dessen creativer Aspekt an. Dieser präzisiert einen Grundzug
cusanischen Denkens, das sich insofern als dialektisches erweist, als es
ebensosehr die complicative, einfaltende und einigende Kraft des Prin-
zips (virtus ita unita, quod magis uniri nequit)68, wie dessen Entfaltung
in oder als Welt bedenkt. Die drei aenigmatischen Gottesnamen non-
aliud, idem, possest verdeutlichen in gleicher Weise das Sein der abso-
luten Transzendenz Gottes wie dessen Wirken im Seienden: das 'Nicht-
Andere’ meint einmal, daß Gott absolute Differenz zu allem Anderen
ist, weil Anderes nicht in ihm ist, zum andern aber ist er als Nicht-
Anderes von diesem nicht verschieden, sondern in ihm als dessen Wesen
(nicht als er selbst) wirksam; das 'Selbe’ bedeutet Gottes reine Identität
oder Einheit, zugleich aber den wirkenden Grund der Selbstidentität
jedes begrenzten, durch die un-endliche Identität gesetzten Seienden;
das 'Können-Ist’ steht nicht nur für die Einheit von Vermögen und
Wirklichkeit in reiner Wirklichkeit, sondern auch für das zeitfreie, um-
fassende Grund-Sein zu dem, was in Zeit „einmal“ sein kann69. So
ist auch das absolute Sehen nicht nur als Kreis von Reflexion und Liebe
in sich beschlossen, sondern geht in der Konstitution von realer, auf
'intelligentia unius’; dies ist der vorreflexive, ermöglichende Grund aller Selbst-
reflexion und der sich selbst negierenden Reflexion des Einen an sich. Proclus,
in Parm. VII (Plato Latinus III ed. R. Klibansky) 70,7: . .. nomen hoc, scilicet
’unum’, est eius qui in nobis conceptus, sed non ipsius unius. Hierzu die Margi-
nalie des Cusanus in Cod. Cus. 186 (Parmenides-Kommentar d. Proklos): nota
primo non convenit hoc nomen 'unum’, sed noster conceptus ipsum format; et
sic circa ipsum non sunt negaciones, quia exaltatum super omnem opposicionem
et negacionem, sed de ipso (Klibansky 106). - Zum Problem: W. Beierwaltes,
Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, Frankfurt 1965, 367ff.
68 vis. 14; 106 v21f.
69 Vgl. hierzu W. Beierwaltes, Identität und Differenz (oben Anm. 17) 14ff.
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über sich hinausweisende Moment im amor inextinguibilis’ zum Einen
selbst; es wird in uns sozusagen zum Modell, an dem begriffen werden
kann, was das Eine in sich ist und nicht ist. Die Negation als bewuß-
tes Eingeständnis des notwendigen, weil in der Sache selbst gründen-
den Versagens des endlichen Begriffs ist deshalb wesenhafter Ausdruck
einer 'docta ignorantia’.
II
Das hauptsächliche Interesse unserer bisherigen Überlegungen galt
der inneren Struktur des absoluten Sehens. Dabei deutete sich bisweilen
auch dessen creativer Aspekt an. Dieser präzisiert einen Grundzug
cusanischen Denkens, das sich insofern als dialektisches erweist, als es
ebensosehr die complicative, einfaltende und einigende Kraft des Prin-
zips (virtus ita unita, quod magis uniri nequit)68, wie dessen Entfaltung
in oder als Welt bedenkt. Die drei aenigmatischen Gottesnamen non-
aliud, idem, possest verdeutlichen in gleicher Weise das Sein der abso-
luten Transzendenz Gottes wie dessen Wirken im Seienden: das 'Nicht-
Andere’ meint einmal, daß Gott absolute Differenz zu allem Anderen
ist, weil Anderes nicht in ihm ist, zum andern aber ist er als Nicht-
Anderes von diesem nicht verschieden, sondern in ihm als dessen Wesen
(nicht als er selbst) wirksam; das 'Selbe’ bedeutet Gottes reine Identität
oder Einheit, zugleich aber den wirkenden Grund der Selbstidentität
jedes begrenzten, durch die un-endliche Identität gesetzten Seienden;
das 'Können-Ist’ steht nicht nur für die Einheit von Vermögen und
Wirklichkeit in reiner Wirklichkeit, sondern auch für das zeitfreie, um-
fassende Grund-Sein zu dem, was in Zeit „einmal“ sein kann69. So
ist auch das absolute Sehen nicht nur als Kreis von Reflexion und Liebe
in sich beschlossen, sondern geht in der Konstitution von realer, auf
'intelligentia unius’; dies ist der vorreflexive, ermöglichende Grund aller Selbst-
reflexion und der sich selbst negierenden Reflexion des Einen an sich. Proclus,
in Parm. VII (Plato Latinus III ed. R. Klibansky) 70,7: . .. nomen hoc, scilicet
’unum’, est eius qui in nobis conceptus, sed non ipsius unius. Hierzu die Margi-
nalie des Cusanus in Cod. Cus. 186 (Parmenides-Kommentar d. Proklos): nota
primo non convenit hoc nomen 'unum’, sed noster conceptus ipsum format; et
sic circa ipsum non sunt negaciones, quia exaltatum super omnem opposicionem
et negacionem, sed de ipso (Klibansky 106). - Zum Problem: W. Beierwaltes,
Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, Frankfurt 1965, 367ff.
68 vis. 14; 106 v21f.
69 Vgl. hierzu W. Beierwaltes, Identität und Differenz (oben Anm. 17) 14ff.