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Beierwaltes, Werner; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1978, 1. Abhandlung): Visio absoluta: Reflexion als Grundzug des göttlichen Prinzips bei Nicolaus Cusanus ; vorgetragen am 5. 11. 1977 — Heidelberg: Winter, 1978

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https://doi.org/10.11588/diglit.45467#0036
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26

Werner Beierwaltes

als Conjectur oder als Negation der Negation: supra omnem affirmatio-
nem pariter et negationem90.
III
1. Die anfangs allgemein geäußerte Behauptung, die Bestimmung
des ersten Prinzips oder des göttlichen Seins durch die Theologie des
Aristoteles: Denken des Denkens oder Selbst-Reflexion zu sein, sei für
die geschichtliche und sachliche Entfaltung der Metaphysik folgenreich,
ist in der cusanischen Gestalt des Problems primär von der Sache her
begründet91. Für die geschichtliche Vermittlung allerdings ist
zunächst nicht die originär-aristotelische Ausprägung dieses Gedan-
kens maßgebend. Deshalb muß in diesem Zusammenhang nicht unbe-
dingt der Frage nachgegangen werden, was der „Inhalt“ des aristote-
lischen Begriffs des göttlichen Selbstdenkens - außer dem Selbst des
90 d.i. I 4; 11,3. de dato Patris lum., Opusc. I 107,5. princ. 19,16ff. Die Negation
der Negation soll freilich nicht die „Wirklichkeit“ des Prinzips aufheben: sie
trifft zwar das Sein selbst, zeigt aber an, daß das Ziel dieser Aussage, die Affir-
mation des Seins, nicht in sich fixiert als eine eben dieser Wirklichkeit angemes-
sene festgehalten werden könne. Cusanus zitiert in einer Predigt (ed. Koch,
Sitzungsber. d. Heid. Ak. d. Wiss. 1936/37, 100, 17ff) Meister Eckhart: . .. nega-
tionis negatio, quae est medulla et apex purissimae affirmationis, secundum illud:
„Ego sum qui sum“. Die philosophische Provenienz für Cusanus: Proclus, in
Parm. VII 72,1: et ipsas abnegationes removit ab uno. 74,14. 76,6: per negari
et ipse removit <omnes> abnegationes.
91 Die Schrift 'De visione Dei’, die hier primär als ein Stadium in der Geschichte
der „Geistmetaphysik“ begriffen wird, ist freilich mit nicht geringerem Recht
unter „asketisch-mystischem“ Aspekt zu interpretieren: die Einübung in die
visio dei soll bestimmend werden für den Sehenden selbst. Ziel ist die Erfahrung
der göttlichen Dunkelheit als des „unzugänglichen Lichtes“ (visio in tenebra:
possest 74,19), erreichbar ist dies eben durch Negation oder totale Abstraktion
(absolvar ab hoc mundo: 25; 114 r9f; vgl. Plot. V 3,17,38: &cpeģ ndvxa), im
Überstieg über sich selbst: rapis me, ut sim supra meipsum (25; 113 v 45; vgl.
Plot. VI 9,10,13ff. u. 11,23: das abstandlose „Sehen“ des Einen als „Ekstasis“).
Dieses 'Sein über sich selbst im göttlichen Sehen’ bedeutet freilich nicht die
Aufhebung der eigenen Individualität oder Personalität, sondern setzt vielmehr
voraus, daß der Mensch in Freiheit sich selbst gewählt habe (posuisti in über-
täte mea ut sim, si voluero, meiipsius . .. ut ego eligam meiipsius esse . . . mei-
ipsius, über: 7; 102 r 27 ff), d.h. daß er in einem freien Akt der Zuwendung sich
in das Sehen Gottes selbst stelle. Das Selbst-Sein des Menschen also ist die Vor-
bedingung dafür, daß er sich selbst im Sein und Wirken Gottes noch potenziert:
sis tu tuus, et ego ero tuus, 102 r 27. (Dies sagt Gott als ipsa libertas [8; 102 v 10]
 
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