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Tilemann Grimm
Man hat für die Übersetzung also nicht einen vertrauten Begriff aus
dem Einzugsgebiet der sinitischen Denktradition gewählt, sondern ein
zwar alt bezeugtes, aber nur am Rande gebrauchtes Wort im Sinne von
„klug“, „überlegt“. Dazu eine etymographische Anmerkung: das ur-
sprüngliche Bild dieses Schriftzeichens zeigt zwei Hände und eine Axt,
die mit dem Element „Mund“ für „Sprechen“ zusammengesetzt sind;
also etwa „klug, überlegt reden“. Ohne der Begriffsdeutung vorgreifen
zu wollen - die chinesische Etymographie hat noch viel aufzuarbeiten -
könnte die Vorstellung zugrundegelegen haben, daß man gedanklich et-
was aufbricht, aufknackt - zwei Hände, eine Axt - vielleicht im Sinne
unseres „Nüsseknackens“, das auch wir metaphorisch für Denkarbeit
gebrauchen können. Der Grund für die Übernahme eines nicht weiter
vorbelasteten Wortes liegt also offenkundig in dem Bedürfnis nach ei-
ner von herkömmlichen Denkgewohnheiten gerade abgesetzten No-
menklatur. Das ließ sich dann in der weiteren Übernahme philosophi-
scher Inhalte nicht immer durchhalten, aber der Hauptbegriff Philoso-
phie als zhe-xüe bzw. tetsugaku war mit den übrigen neuen Wissenschaf-
ten als Fach-Wissenschaft rezipiert worden, demgegenüber traditionelle
Lehren, Theorien und Weistümer in einer fach-übergreifenden, univer-
sellen Perspektive gesehen wurden. Und diese Fachlichkeit erhielt der
Begriff nicht zuletzt deshalb, weil er zunächst im wesentlichen europäi-
sche Philosophie war.
Dessen ungeachtet wird der Begriff im weiteren Verlauf jedoch inso-
weit integriert, als mit ihm die eigene Philosophie-Geschichte erzählt
wird, und es werden Lehrstühle für Philosophie an den Universitäten
eingerichtet und ein philosophisches Institut in der Akademie der Wis-
senschaften gebildet. Damit setzt sich die Geschichte des Begriffes Phi-
losophie in einem neuen kulturellen Kontext fort, wenngleich lexiko-
graphisch die Übersetzung des abendländischen Philosophiebegriffes
festgehalten wird.
Hier stellt sich nun auch ein anderer, geläufigerer Begriff ein, der
eher den Vorgang des Denkens als das Gedachte bezeichnet, shisd im
Japanischen, chin. si-xiang, mit der Bedeutung eines sinnenden Nach-
denkens. Und hier scheint es nun, daß es die Chinesen gewesen sind, die
dieses ebenfalls alt bezeugte Wort3 für das nomen „Denken“ zuerst
übernommen haben, allerdings kaum vor den zwanziger Jahren unseres
Jahrhunderts. Nebenbei, herausgehoben als Titel eines Sammelwerks
und von da her als spezifische Bezeichnung einer politischen Ideologie,
3 Früheste Stelle bei Cao Zhi (3. Jh. n. Chr.), 1t. Dai Kanwa jiten s. v.
Tilemann Grimm
Man hat für die Übersetzung also nicht einen vertrauten Begriff aus
dem Einzugsgebiet der sinitischen Denktradition gewählt, sondern ein
zwar alt bezeugtes, aber nur am Rande gebrauchtes Wort im Sinne von
„klug“, „überlegt“. Dazu eine etymographische Anmerkung: das ur-
sprüngliche Bild dieses Schriftzeichens zeigt zwei Hände und eine Axt,
die mit dem Element „Mund“ für „Sprechen“ zusammengesetzt sind;
also etwa „klug, überlegt reden“. Ohne der Begriffsdeutung vorgreifen
zu wollen - die chinesische Etymographie hat noch viel aufzuarbeiten -
könnte die Vorstellung zugrundegelegen haben, daß man gedanklich et-
was aufbricht, aufknackt - zwei Hände, eine Axt - vielleicht im Sinne
unseres „Nüsseknackens“, das auch wir metaphorisch für Denkarbeit
gebrauchen können. Der Grund für die Übernahme eines nicht weiter
vorbelasteten Wortes liegt also offenkundig in dem Bedürfnis nach ei-
ner von herkömmlichen Denkgewohnheiten gerade abgesetzten No-
menklatur. Das ließ sich dann in der weiteren Übernahme philosophi-
scher Inhalte nicht immer durchhalten, aber der Hauptbegriff Philoso-
phie als zhe-xüe bzw. tetsugaku war mit den übrigen neuen Wissenschaf-
ten als Fach-Wissenschaft rezipiert worden, demgegenüber traditionelle
Lehren, Theorien und Weistümer in einer fach-übergreifenden, univer-
sellen Perspektive gesehen wurden. Und diese Fachlichkeit erhielt der
Begriff nicht zuletzt deshalb, weil er zunächst im wesentlichen europäi-
sche Philosophie war.
Dessen ungeachtet wird der Begriff im weiteren Verlauf jedoch inso-
weit integriert, als mit ihm die eigene Philosophie-Geschichte erzählt
wird, und es werden Lehrstühle für Philosophie an den Universitäten
eingerichtet und ein philosophisches Institut in der Akademie der Wis-
senschaften gebildet. Damit setzt sich die Geschichte des Begriffes Phi-
losophie in einem neuen kulturellen Kontext fort, wenngleich lexiko-
graphisch die Übersetzung des abendländischen Philosophiebegriffes
festgehalten wird.
Hier stellt sich nun auch ein anderer, geläufigerer Begriff ein, der
eher den Vorgang des Denkens als das Gedachte bezeichnet, shisd im
Japanischen, chin. si-xiang, mit der Bedeutung eines sinnenden Nach-
denkens. Und hier scheint es nun, daß es die Chinesen gewesen sind, die
dieses ebenfalls alt bezeugte Wort3 für das nomen „Denken“ zuerst
übernommen haben, allerdings kaum vor den zwanziger Jahren unseres
Jahrhunderts. Nebenbei, herausgehoben als Titel eines Sammelwerks
und von da her als spezifische Bezeichnung einer politischen Ideologie,
3 Früheste Stelle bei Cao Zhi (3. Jh. n. Chr.), 1t. Dai Kanwa jiten s. v.