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Tilemann Grimm
sehen in ihren sozialen Rollen den jeweiligen Platz zuwies und darin
einordnete: Vater — Sohn, Fürst — Untertan, Mann - Frau, älterer und
jüngerer Bruder, endlich Freund zu Freund, die zehn menschlichen Be-
ziehungen, in denen der Herrscher, der Vater, der Mann und der Ältere
die bestimmenden Rollen waren. So formte sich einerseits das Bild ei-
ner großen Ordnung unter Menschen in der vorgegebenen Ordnung des
Alls, und es entwickelte sich andererseits die psychisch gefestigte Per-
son im sozialen Rollengeflecht von Familie, Staat und Mitmenschlich-
keit.
Diese Gedanken und Konstrukte entstammen weithin älterem Be-
stand, aber die ontologischen Voraussetzungen sind erst im 11. Jh. ge-
klärt worden in Anlehnung an die und in Entgegensetzung zur tao-
istisch-buddhistischen Weltschau. Während zeitgenössisch der Univer-
salienstreit in Europa anhob, setzten sich die Neo-Konfuzianer, später
auch schon im Sinne von „staatstragenden“ Denkern, gegenüber den
buddhistischen und zuletzt den der Zen-Schule Zugehörigen durch. In
Zhu Xi (1130—1200), einem Zeitgenossen Anselms von Canterbury,
finden wir den großen Synthetiker, dem um ein Jahrhundert späteren
Aquinaten vergleichbar.
Ich fasse noch einmal zusammen: ein Begriffsfeld erschließt sich mit
kaum mehr als 30 Einzelbegriffen, von denen je die Hälfte ontologisch-
metaphysisch und anthropologisch-ethisch besetzt sind, und deren
Komplexhaftigkeit zu entfalten und zu verstehen dem Menschen als
Denkbemühung aufgegeben ist. Eben deswegen lassen sich Erläute-
rungsbereiche entfalten, die das Ganze dieser Weltschau in Thesen und
Kommentaren dazu umfassen. Ein berühmtes Beispiel sind die acht
Thesen der Vollkommenheitsbemühung im Text Da-xüe, die „Große
Lehre“ (ein Han-zeitlicher Text):
„(1) Wer vor alters die klare sittliche Ausstrahlungskraft auf dem
ganzen Erdkreis zum Leuchten bringen wollte, (2) schuf zunächst sei-
nem Land gute Regierung. Wer seinem Land gute Regierung schaffen
wollte, (3) brachte zunächst sein Haus in Ordnung. Wer sein Haus in
Ordnung bringen wollte, (4) vervollkommnete zunächst seine Leib-Per-
son. Wer seine Leib-Person vervollkommnen wollte, (5) regulierte zu-
nächst seine Geist-Person (Herz). Wer seine Geist-Person regulieren
wollte, (6) der machte zunächst sein Sinnen und Trachten wahrhaftig.
Wer sein Sinnen und Trachten wahrhaftig machen wollte, (7) mußte zu-
nächst mit sich selbst ins Reine gekommen sein. Und wer mit sich selbst
ins Reine kommen wollte, (8) der mußte den Dingen auf den Grund ge-
hen“. Dem folgt die achtfache indikativische Umkehr des „wenn,
Tilemann Grimm
sehen in ihren sozialen Rollen den jeweiligen Platz zuwies und darin
einordnete: Vater — Sohn, Fürst — Untertan, Mann - Frau, älterer und
jüngerer Bruder, endlich Freund zu Freund, die zehn menschlichen Be-
ziehungen, in denen der Herrscher, der Vater, der Mann und der Ältere
die bestimmenden Rollen waren. So formte sich einerseits das Bild ei-
ner großen Ordnung unter Menschen in der vorgegebenen Ordnung des
Alls, und es entwickelte sich andererseits die psychisch gefestigte Per-
son im sozialen Rollengeflecht von Familie, Staat und Mitmenschlich-
keit.
Diese Gedanken und Konstrukte entstammen weithin älterem Be-
stand, aber die ontologischen Voraussetzungen sind erst im 11. Jh. ge-
klärt worden in Anlehnung an die und in Entgegensetzung zur tao-
istisch-buddhistischen Weltschau. Während zeitgenössisch der Univer-
salienstreit in Europa anhob, setzten sich die Neo-Konfuzianer, später
auch schon im Sinne von „staatstragenden“ Denkern, gegenüber den
buddhistischen und zuletzt den der Zen-Schule Zugehörigen durch. In
Zhu Xi (1130—1200), einem Zeitgenossen Anselms von Canterbury,
finden wir den großen Synthetiker, dem um ein Jahrhundert späteren
Aquinaten vergleichbar.
Ich fasse noch einmal zusammen: ein Begriffsfeld erschließt sich mit
kaum mehr als 30 Einzelbegriffen, von denen je die Hälfte ontologisch-
metaphysisch und anthropologisch-ethisch besetzt sind, und deren
Komplexhaftigkeit zu entfalten und zu verstehen dem Menschen als
Denkbemühung aufgegeben ist. Eben deswegen lassen sich Erläute-
rungsbereiche entfalten, die das Ganze dieser Weltschau in Thesen und
Kommentaren dazu umfassen. Ein berühmtes Beispiel sind die acht
Thesen der Vollkommenheitsbemühung im Text Da-xüe, die „Große
Lehre“ (ein Han-zeitlicher Text):
„(1) Wer vor alters die klare sittliche Ausstrahlungskraft auf dem
ganzen Erdkreis zum Leuchten bringen wollte, (2) schuf zunächst sei-
nem Land gute Regierung. Wer seinem Land gute Regierung schaffen
wollte, (3) brachte zunächst sein Haus in Ordnung. Wer sein Haus in
Ordnung bringen wollte, (4) vervollkommnete zunächst seine Leib-Per-
son. Wer seine Leib-Person vervollkommnen wollte, (5) regulierte zu-
nächst seine Geist-Person (Herz). Wer seine Geist-Person regulieren
wollte, (6) der machte zunächst sein Sinnen und Trachten wahrhaftig.
Wer sein Sinnen und Trachten wahrhaftig machen wollte, (7) mußte zu-
nächst mit sich selbst ins Reine gekommen sein. Und wer mit sich selbst
ins Reine kommen wollte, (8) der mußte den Dingen auf den Grund ge-
hen“. Dem folgt die achtfache indikativische Umkehr des „wenn,