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Geyer, Dietrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 2. Abhandlung): Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte: vorgetragen am 27. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47816#0018
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Dietrich Geyer

Wie sich zeigt, ist es äußerst schwer, die Geschichte dieses multina-
tionalen Vaterlandes so zu schreiben, daß die einzelnen Nationalitäten
ihre eigene vaterländische Geschichte darin wiederfänden. Offensicht-
lich läßt sich Geschichte der UdSSR durch die bloße Addition von
Nationalgeschichten nicht einfach zusammenfugen. Die Konzeptions-
und Koordinationsprobleme, die hier sichtbar werden, wären gewiß
auch dann erheblich, wenn die ideologischen Ansprüche bescheidener
wären, als sie es sind. Die sowjetische Bevölkerungsstatistik kennt
mehr als hundert eigenständige Nationalitäten (bolee 100 nacij i narod-
nostej\3Q Selbst durch erfindungsreiche Historiker könnte deren
Geschichte, bis zur Ethnogenese zurück, über die Jahrhunderte hin
nicht aufeinander bezogen werden. Es sei denn, man wollte so tun, als
hätte es von den Anfängen her bereits zu den Gesetzmäßigkeiten die-
ser vielen Nationalgeschichten gehört, in das Russische Imperium und
sodann in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken einzumün-
den. Dies zu simulieren wurde in der Stalinzeit gelegentlich probiert,
heute nicht mehr.30 31
Wie kompliziert die hier angeschnittenen Probleme dennoch sind,
wird klar, wenn man bedenkt, daß in den letzten zehn bis fünfzehn
Jahren mehr als vierzig nichtrussische Völker der Sowjetunion eigene,
oft mehrbändige Nationalgeschichten erhalten haben - nach dem Vor-
bild der Geschichte der UdSSR jeweils Gesamtdarstellungen „von den
ältesten Zeiten bis auf unsere Tage.“32 Auf die institutionellen und
organisatorischen Voraussetzungen dieser Regionalgeschichtsschrei-
bung wird noch zurückzukommen sein. Bemerkungswert ist, daß von
den zahlenmäßig beträchtlichen Minderheiten in der Sowjetunion
bisher nur den Polen, den Deutschen und den Juden keine eigene
geschriebene Geschichte zugestanden wurde, freilich - und das ist kein
Zufall! - auch den Russen selber nicht.

30 Nationalitätenstatistik aufgrund der Volkszählung von 1979: Narodnoe chozjajstvo
SSSR v 1982 g. Statisticeskij ezegodnik, Moskau 1983, S. 23-25, vgl. auch Naselenie
v SSSR. Po dannym Vsesojuznoj perepisi naselenija 1979 g., Moskau 1980.
31 Anschauliche Beispiele für diese hierarchische Geschichtsauffassung bietet Klaus
Mehnert, Weltrevolution durch Weltgeschichte. Die Geschichtslehre des Stalinis-
mus, Stuttgart 1953.
32 Vorzügliche Orientierung und Analysen mit reichen bibliographischen Hinweisen
bei Albrecht Martiny, Das Verhältnis von Politik und Geschichtsschreibung in der
Historiographie der sowjetischen Nationalitäten seit den sechziger Jahren, in: Jahr-
bücher für Geschichte Osteuropas 27. 1979, S. 238-272.
 
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