Metadaten

Geyer, Dietrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 2. Abhandlung): Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte: vorgetragen am 27. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47816#0020
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
18

Dietrich Geyer

(narody SSSR) häufig nicht enthalten ist. Gemeint sind mit diesem
Begriff im Rahmen sowjetischer Geschichtsdarstellungen (wie des
sowjetischen Büchermarktes überhaupt) nur die nichtrussischen Völ-
ker der Union?" Diesem Sachverhalt entspricht, daß in der um Ruß-
land zentrierten Reichsgeschichte die nichtrussischen Völker zwar
nicht ausgeklammert sind, aber doch nur eine marginale, jedenfalls
provinzielle Rolle spielen. Die Moskauer Zentralperspektive überwiegt
gewissermaßen schon von selber. Auch die Maßstäbe und Urteile für
die Geschichten der kleineren Vaterländer sind von denen des einen
großen Vaterlandes abzuleiten.
Daß dem so ist, läßt sich vielfältig belegen. Kriterium für Gut und
Böse in der Geschichte der „Völker der UdSSR“ ist die Annäherung
dieser Völker, ist die Völkerfreundschaft, die Freundschaft zum russi-
schen Volk vor allem.35 36 Freiheitshelden, die ihren Ruhm im Kampf
gegen die Russen gewonnen hätten, gibt es nicht. Wer dennoch
kämpfte, kann kein positiver Held gewesen sein, es sei denn, er hätte
mit den russischen „Volksmassen“ gemeinsam gegen den Zarismus
gestritten. Revolutionäre Solidarität über die nationalen Grenzen hin-
weg erlaubt es, auch gegen die russische Staatsmacht anzugehen. In
jedem Fall zu rühmen ist, wer für die Vereinigung mit Rußland war: In
der Ukraine, genauer: in der Geschichte der Ukrainischen Sozialisti-
schen Sowjetrepublik, trifft das für Bohdan Chmefnyckyj zu, der das
Kosakenhetmanat 1654 unter das Szepter des Moskauer Zaren
brachte, nicht dagegen gilt das für den Hetman Mazepa, der mit dem
Schwedenkönig Karl XII. gegen Peter den Ersten, den Großen, focht
und damit die Freundschaft der beiden Brudervölker „verriet“.37

35 VgL z. B. die in Anm. 23 genannten Rechenschaftsberichte über die „Historiogra-
phie der Völker der UdSSR“, sowie die Terminologie der mehrfach zitierten zwölf-
bändigen Akademieausgabe (Anm. 6).
36 Ausführlich dazu mit Rückblicken auf die Diskussionen der dreißiger Jahre: L. Til-
lett, The Great Friendship (Anm. 5), S. 18 ff.
37 Das Bewegungsfeld für ukrainische Historiker zwischen klassenkämpferischen und
nationalen Kriterien beschreibt Emst Lüdemann, Zur patriotischen Tendenz in der
sowjetukrainischen Geschichtsschreibung, in: Osteuropa 29. 1979, S. 311-322. -
Die maßgebende Darstellung zur Geschichte der Ukrainischen Sozialistischen So-
wjetrepublik erschien in acht Bänden (zehn Teilen) als Ausgabe der Kiever Akade-
mie der Wissenschaften: Istorija Ukrains’koi RSR, Kiev 1977-1979, dazu jetzt die
einbändige Kurzfassung in russ. Übersetzung: Istorija Ukrainskoj SSR. Kratkij
ocerk, Kiev 1982. Zu Chmel’nyckyj vgl. das Kapitel „Der Befreiungskrieg 1648-1654
und die Vereinigung der Ukraine mit Rußland“ (ebd., S. 92-101).
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften