Zeit und Geschichte bei Augustin
45
„memoria“ Vergessen („praeterita oblitus“), statt einer „distentio in
futura“ ein „extentus“-Sein und „intentio“. Hier wird die „distentio“
der augustinischen Zeitlehre mit ihrer „memoria“ der „praeterita“ und
„expectatio“ der „futura“ außer Kraft gesetzt, und es ist nicht statthaft,
„distentio animi“ (samt Zukunftserwartung) mit der jenseitigen Ewig-
keit („palma supernae vocationis“) zu verbinden, d. h. die Glieder
eines Gegensatzes zum Begriff des einen Oppositionspoles zusam-
menzusetzen.
Wenn man beachtet, daß nicht nur „distentus“ durch „extentus“
(Pauluszitat), sondern auch „distentio“ durch „intentio“ (Augustins
Interpretation) ersetzt wird und damit nicht ein Synonym zur Zu-
kunftserwartung, sondern für die Gegenwartshaltung („attentio“)
gewählt ist, kann man nicht zweifeln, daß hier nicht von menschlicher
Zukunft, sondern von der die Zeit überwindenden Ewigkeit als ewiger
Gegenwart die Rede ist79.
Außerdem hat Augustin sogar noch den Zukünftigkeitscharakter
des paulinischen Satzes verloren gehen lassen, was die Zweideutigkeit
der Vetus Latina-Übersetzung ermöglichte. Er fand in seinem Text das
EpirpooÜEv des Paulus mit „ante“ wiedergegeben und deutete dieses
„ante“, das doch „vorne vor uns“ meint, ausdrücklich als verschieden
von den „futura et transitura“, nämlich als „ante omnia tempora“ (conf.
11, 30, 40), d. h. als die zeitenthobene stehende Gegenwart Gottes80,
und damit implizit die „praeterita“, die vergessen werden, als die Zeit
überhaupt, nicht als Vergangenheit81. Damit wird das Philipperbrief-
79 Vgl. O’Daly, Distentio, S. 269: „liberation from the temporal“; Meijering, comm.
conf. XI, S. 103.
80 Vgl. Duchrow, Sog. psycholog. Zeitbegriff A.s, S. 284.
81 Vgl. die Parallele in Anm. 82. Auch die Wendung „a veteribus diebus colligar“
unterstützt diese Interpretation, und zwar sowohl mit „colligar“ (vgl. o. Anm. 74) als
auch mit den „alten Tagen“ (Ps. 38,6). Augustin hat den Psalmvers schon conf. 11,
22, 28 zitiert: „Ecce veteres posuisti dies meos et transeunt, et quomodo, nescio“,
wo die alten Tage die Zeit bedeuten. Enarratio in Ps. 38,9 (CCL 38, p. 410) macht
dies eindeutig durch die Gegenüberstellung von altem und neuem Menschen:
„Ergo ad peccatum, ad mortalitatem, ad praetervolantia tempora, [...], ad aetates
succedentes, non manentes, ab infantia usque ad senectutem sine sensu transeun-
tes, ad haec adtendentes, videamus hic veterem hominem, veterem diem, vetus
canticum, Vetus Testamentum; [... ]“. Ebenso wird conf. 11,10,12-11,11,13 „pleni
sunt vetustatis suae“ erklärt durch „adhuc in praeteritis et futuris rerum motibus cor
eorum volitat“ (opp.: „aetema sapere“); vgl. dazu BA 14, S. 291, Anm. 2 (Solignac).
Vgl. auch Meijering, comm. conf. XI, S. 78.
45
„memoria“ Vergessen („praeterita oblitus“), statt einer „distentio in
futura“ ein „extentus“-Sein und „intentio“. Hier wird die „distentio“
der augustinischen Zeitlehre mit ihrer „memoria“ der „praeterita“ und
„expectatio“ der „futura“ außer Kraft gesetzt, und es ist nicht statthaft,
„distentio animi“ (samt Zukunftserwartung) mit der jenseitigen Ewig-
keit („palma supernae vocationis“) zu verbinden, d. h. die Glieder
eines Gegensatzes zum Begriff des einen Oppositionspoles zusam-
menzusetzen.
Wenn man beachtet, daß nicht nur „distentus“ durch „extentus“
(Pauluszitat), sondern auch „distentio“ durch „intentio“ (Augustins
Interpretation) ersetzt wird und damit nicht ein Synonym zur Zu-
kunftserwartung, sondern für die Gegenwartshaltung („attentio“)
gewählt ist, kann man nicht zweifeln, daß hier nicht von menschlicher
Zukunft, sondern von der die Zeit überwindenden Ewigkeit als ewiger
Gegenwart die Rede ist79.
Außerdem hat Augustin sogar noch den Zukünftigkeitscharakter
des paulinischen Satzes verloren gehen lassen, was die Zweideutigkeit
der Vetus Latina-Übersetzung ermöglichte. Er fand in seinem Text das
EpirpooÜEv des Paulus mit „ante“ wiedergegeben und deutete dieses
„ante“, das doch „vorne vor uns“ meint, ausdrücklich als verschieden
von den „futura et transitura“, nämlich als „ante omnia tempora“ (conf.
11, 30, 40), d. h. als die zeitenthobene stehende Gegenwart Gottes80,
und damit implizit die „praeterita“, die vergessen werden, als die Zeit
überhaupt, nicht als Vergangenheit81. Damit wird das Philipperbrief-
79 Vgl. O’Daly, Distentio, S. 269: „liberation from the temporal“; Meijering, comm.
conf. XI, S. 103.
80 Vgl. Duchrow, Sog. psycholog. Zeitbegriff A.s, S. 284.
81 Vgl. die Parallele in Anm. 82. Auch die Wendung „a veteribus diebus colligar“
unterstützt diese Interpretation, und zwar sowohl mit „colligar“ (vgl. o. Anm. 74) als
auch mit den „alten Tagen“ (Ps. 38,6). Augustin hat den Psalmvers schon conf. 11,
22, 28 zitiert: „Ecce veteres posuisti dies meos et transeunt, et quomodo, nescio“,
wo die alten Tage die Zeit bedeuten. Enarratio in Ps. 38,9 (CCL 38, p. 410) macht
dies eindeutig durch die Gegenüberstellung von altem und neuem Menschen:
„Ergo ad peccatum, ad mortalitatem, ad praetervolantia tempora, [...], ad aetates
succedentes, non manentes, ab infantia usque ad senectutem sine sensu transeun-
tes, ad haec adtendentes, videamus hic veterem hominem, veterem diem, vetus
canticum, Vetus Testamentum; [... ]“. Ebenso wird conf. 11,10,12-11,11,13 „pleni
sunt vetustatis suae“ erklärt durch „adhuc in praeteritis et futuris rerum motibus cor
eorum volitat“ (opp.: „aetema sapere“); vgl. dazu BA 14, S. 291, Anm. 2 (Solignac).
Vgl. auch Meijering, comm. conf. XI, S. 78.