Eine wiederentdeckte „Verkündigung Mariä1
17
„Darbringung im Tempel“ beruft sich Giovanni di Paolo auf Ambro-
gio Lorenzettis themen- und dimensionsgleiche Komposition von
1342, die früher einen Altar im Sieneser Dom schmückte und heute
ein Kernstück des Bestandes sienesischer Malerei in den Uffizien ist18.
Giovanni übernimmt das komplizierte, für das mittlere Trecento unge-
mein kühne Szenarium und die Figurendisposition. Aber er lenkt die
Feierlichkeit der Lorenzettischen Dramaturgie in Richtung größeren
Reichtums und differenzierteren Ausdrucks um: Die Architektur ist
um Grade preziöser, die schlanken, feingliedrigen Gestalten tragen
falten- und kurvenreich drapierte Gewänder, einige der Akteure, wie
der Hohepriester oder die Prophetin Hannah, haben, im Gegensatz zu
der mädchenhaft zarten Maria, expressiv gezeichnete Gesichter.
Eigenwilliger als in den großen Altartafeln äußert sich Giovannis
Traditionsbezug in den kleinformatigen narrativen Darstellungen,
zumeist Predellenbildern. Die Errungenschaften des Trecento im Hin-
blick auf Wirklichkeitserfassung und Erzählfreiheit - man denke nur
an die Lorenzetti-Fresken der Sala della Pace im Palazzo Pubblico -
erfahren eine Steigerung im Geiste der neuen, durch den Internationa-
len Stil und die Frührenaissance eröffneten Möglichkeiten und im
Zeichen des individuellen, zum Phantastischen neigenden Tempera-
ments. Die wahrscheinlich einst zur Predella des 1436 für S. Francesco
in Siena gemalten Fondi-Polyptychons gehörende „Flucht nach Ägyp-
ten“ in der Sieneser Pinakothek besitzt eine Art Doppelnatur19. Reali-
tät ist auf eine verblüffend getreue und liebevolle Weise geschildert:
die Landschaft unter dem blauen Himmel, der Wasserlauf, die be-
festigten Städte in der Ferne, die Mühle mit ihrem Stauwehr, die Hütte
und die Landleute bei ihren agrarischen Verrichtungen, die Bäume
und Sträucher, das Sonnenlicht, welches alles überflutet und warm-
tonige Schlagschatten entstehen läßt (Giovanni war der erste, der
solche Schlagschatten richtig beobachtet und gemalt hat!); und zu-
gleich ist diese Wirklichkeitsbeschwörung an eine Imagination zurück-
gebunden, die gewissermaßen den Augeneindruck relativiert. Das
Selektive der Naturdarbietung, die Proportionssprünge und die Ver-
kürzungsfreiheiten sind nur äußere Merkmale einer weder mit naiv
noch mit raffiniert angemessen umschriebenen Weise poetischer
Interpretation persönlicher Welterfahrung.
a.a.O., 1947, S. 35 ff. und Rekonstruktionsvorschlag S. 43; Henk W. van Os:
Giovanni di Paolo’s Pizzicaiuolo Altarpiece, in: The Art Bulletin, 53,1971, S. 289ff.
18 Vgl.: Gli Uffizi, Catalogo Generale, Florenz 1979, S. 342.
19 Vgl. Piero Torriti, a.a.O., S. 306f. (mit Bibliographie).
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„Darbringung im Tempel“ beruft sich Giovanni di Paolo auf Ambro-
gio Lorenzettis themen- und dimensionsgleiche Komposition von
1342, die früher einen Altar im Sieneser Dom schmückte und heute
ein Kernstück des Bestandes sienesischer Malerei in den Uffizien ist18.
Giovanni übernimmt das komplizierte, für das mittlere Trecento unge-
mein kühne Szenarium und die Figurendisposition. Aber er lenkt die
Feierlichkeit der Lorenzettischen Dramaturgie in Richtung größeren
Reichtums und differenzierteren Ausdrucks um: Die Architektur ist
um Grade preziöser, die schlanken, feingliedrigen Gestalten tragen
falten- und kurvenreich drapierte Gewänder, einige der Akteure, wie
der Hohepriester oder die Prophetin Hannah, haben, im Gegensatz zu
der mädchenhaft zarten Maria, expressiv gezeichnete Gesichter.
Eigenwilliger als in den großen Altartafeln äußert sich Giovannis
Traditionsbezug in den kleinformatigen narrativen Darstellungen,
zumeist Predellenbildern. Die Errungenschaften des Trecento im Hin-
blick auf Wirklichkeitserfassung und Erzählfreiheit - man denke nur
an die Lorenzetti-Fresken der Sala della Pace im Palazzo Pubblico -
erfahren eine Steigerung im Geiste der neuen, durch den Internationa-
len Stil und die Frührenaissance eröffneten Möglichkeiten und im
Zeichen des individuellen, zum Phantastischen neigenden Tempera-
ments. Die wahrscheinlich einst zur Predella des 1436 für S. Francesco
in Siena gemalten Fondi-Polyptychons gehörende „Flucht nach Ägyp-
ten“ in der Sieneser Pinakothek besitzt eine Art Doppelnatur19. Reali-
tät ist auf eine verblüffend getreue und liebevolle Weise geschildert:
die Landschaft unter dem blauen Himmel, der Wasserlauf, die be-
festigten Städte in der Ferne, die Mühle mit ihrem Stauwehr, die Hütte
und die Landleute bei ihren agrarischen Verrichtungen, die Bäume
und Sträucher, das Sonnenlicht, welches alles überflutet und warm-
tonige Schlagschatten entstehen läßt (Giovanni war der erste, der
solche Schlagschatten richtig beobachtet und gemalt hat!); und zu-
gleich ist diese Wirklichkeitsbeschwörung an eine Imagination zurück-
gebunden, die gewissermaßen den Augeneindruck relativiert. Das
Selektive der Naturdarbietung, die Proportionssprünge und die Ver-
kürzungsfreiheiten sind nur äußere Merkmale einer weder mit naiv
noch mit raffiniert angemessen umschriebenen Weise poetischer
Interpretation persönlicher Welterfahrung.
a.a.O., 1947, S. 35 ff. und Rekonstruktionsvorschlag S. 43; Henk W. van Os:
Giovanni di Paolo’s Pizzicaiuolo Altarpiece, in: The Art Bulletin, 53,1971, S. 289ff.
18 Vgl.: Gli Uffizi, Catalogo Generale, Florenz 1979, S. 342.
19 Vgl. Piero Torriti, a.a.O., S. 306f. (mit Bibliographie).