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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 3. Abhandlung): Die Entstehung der historischen Biographie: vorgetragen am 26. Apr. 1986 — Heidelberg: Winter, 1987

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https://doi.org/10.11588/diglit.48146#0043
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Die Entstehung der historischen Biographie

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Hoffnungen; die Mehrheit erfaßt Angst, wenn das Vertrauen in das Fortbestehen
der friedlichen Zustände verloren geht, entfaltet aber, wenn die gewohnte Ordnung
tatsächlich zusammenbricht, Energie und Selbstvertrauen.
Bei keiner Gelegenheit erfährt der Bürger den Zusammenhang zwischen dem
eigenen Wohlergehen und dem des Gemeinwesens so nachdrücklich wie im Krieg.
Wo aber Sorge und Ruhm, die mit der Kriegsführung verbunden sein können, nur
noch den Princeps angehen, die von ihm dirigierte Kriegsmaschinerie jedoch keine
Beziehung zur übrigen Bevölkerung hat und diese vom Krieg nicht unmittelbar
betroffen wird, schwindet nicht nur das Gefühl der Zugehörigkeit zur res publica,
sondern auch das Interesse an einer Geschichtsschreibung, deren vorzüglichster
Gegenstand die vom römischen Volk geführten Kriege sind.
Diese inscitia rei publicae ut alienae hat aber noch andere Gründe. Tacitus
gebraucht den Ausdruck im Prooemium der Historien (1,1), um einen weiteren
Unterschied zu beschreiben, der zwischen der Situation des Geschichtsschreibers
in der Republik und unter dem Prinzipat besteht. Wo alle für den Staat wesent-
lichen Entscheidungen hinter den verschlossenen Türen des kaiserlichen Kabinetts
fallen, vermag der Historiker die wahren Ursachen der Ereignisse nur schwer zu
ermitteln, und der Leser hat aus eigener politischer Erfahrung kein Urteil über die
Wahrscheinlichkeit dessen, was der Historiker vorträgt.
Die inscitia rei publicae als erschwerende Randbedingung für die Geschichts-
schreibung unter dem Prinzipat scheint schon in der frühkaiserzeitlichen Historio-
graphie erörtert worden zu sein. Das lehrt der weit ausführlichere Abschnitt, den
Cassius Dio (53,19) diesem Problem widmet und der mit Sicherheit nicht von
Tacitus abhängt (vgl. Seneca HRF p. 292).
So begegnet u. a. bei Cassius Dio der bei Tacitus fehlende Gedanke, daß in
einem freien Gemeinwesen auch extreme Parteilichkeit eines Historikers die Wahr-
heit nicht dauernd verdunkeln könne. Dieselben Ereignisse werden ja von ent-
gegengesetzten Standpunkten aus dargestellt, und der Leser kann daraus und mit
Hilfe der veröffentlichten Dokumente letztlich das Richtige erschließen (53,19,3).
Auch das Argument, daß die Größe und Ausdehnung des Reiches und die Kompli-
ziertheit seiner Verwaltung dem Historiker so gut wie seinem Leser den Überblick
und das Verständnis der politischen Ereignisse erschwere, findet sich bei Tacitus
nicht.
Cassius Dio fügt diese Beschreibung der besonderen für den Historiker beste-
henden Schwierigkeiten an eine sehr positive Darstellung der neuen, stabilen Ord-
nung des augusteischen Staates, die er hier und an anderen Stellen seines Werkes
ganz ähnlich wie Sueton offenbar als vorbildlich für die eigene Zeit ansieht. Bei
Tacitus, der stärker als 100 Jahre später Dio Cassius der republikanischen Tradition
des Senatorenstandes verpflichtet war, wird man eine derart grundsätzliche Zustim-
mung zur Monarchie vergeblich suchen. Doch findet sich auch bei ihm wiederholt
die Anerkennung der Notwendigkeit einer monarchischen Ordnung unter den
 
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