18
Joseph Georg Wolf
2. Die Rede ist streng nach den rhetorischen Kunstregein komponiert.49 Ihre
Teile sind leicht zu unterscheiden.50 Das exordium51 endet in 43.2 mit res publica
consiliis eguisset. Eine narratio52 schließt sich an, die aber sehr kurz gehalten ist;
sie besteht nur aus dem Satz quod hodie venit etc. Die argumentatio55 beginnt mit
43.3: decernite hercule inpunitatem: auf eine probatio (43.3) folgt eine refutatio
(43.4) und wieder eine probatio (44.1 und 2), mit der sie dann zunächst endet.
Die peroratio5"' beschränkt sich auf eine indignatio (44.3)55; sie beschließt auch
nicht die Rede. Vielmehr wird die argumentatio noch einmal aufgenommen, und
zwar mit einer weiteren refutatio, die zu einer Schlußsentenz führt (44.4).
3. In der Einleitung56 seiner Rede verbindet Cassius die übliche Selbst-
darstellung mit dem Gegenstand der Verhandlung, den er außerdem
sofort in ein Argumentations- und Wertschema einordnet. Contra insti-
(Forts. Fußnote 48)
‘Meinung’ zu äußern (‘Dic, Marce Tulli’); seine Aufforderung hieß sententiam
rogare. Für die Äußerung des Senators wird darum in nicht technischer Rede auch
respondere verwendet: ita dissonae voces respondebant (45.1); vgl. ann. 3.34.2, Plin.
epist. 9.13.19. - Ohne Bezug auf die Prozedur ist dagegen: C. Cassius ... disseruit
(42.2); das sachlich-neutrale disserere wird von Tacitus aber gern für die Stellung-
nahme des Senators gebraucht: ann. 2.33.2, 3.59.1, 13.41.4. Untechnisch ist auch:
nova senatus decreta postularentur (43.1); zu decretum s. aber Mommsen 995. -
Einer Fachterminologie bedient sich Tacitus, schließlich, in dem Satz: pronuntiemus
ultro dominum iure caesum videri (43.4). Pronuntiare wird technisch gebraucht für
den Urteilsspruch im Kognitionsverfahren, und auf iure caesum videri lautete die
Entscheidung, wenn eine Mordtat nicht rechtswidrig war; vgl. etwa Liv. 4.15.1:
Maelium iure caesum videri pronuntiavit, Sen. nat. quaest. 1.16.1: Augustus ... non
pronuntiavit (hunc) iure caesum videri; weit. Nachw. bei Brissonius, De formulis
etc. c. 218. Die Urteilsterminologie wird in 43.4. aber nicht im eigentlichen Sinne
gebraucht; der Senat hat nicht über die Rechtmäßigkeit der Mordtat zu entscheiden;
er hat überhaupt kein Urteil zu fällen, denn er tagt ja nicht als Gericht; zur Funktion
dieser Ausdrucksweise nach A. 106. Die übliche Vorstellung, Tacitus vermeide nach
Möglichkeit Fachausdrücke (vgl. etwa M. v. Albrecht, Meister röm. Prosa [1971]
187 A. 42) ist in dieser Allgemeinheit kaum richtig.
49 Siehe schon Nörr (1983) 201 f.
50 Die antike Schulrhetorik unterschied gewöhnlich vier oder fünf Teile, je nach dem,
ob probatio und refutatio als selbständige partes oder als Unterabteilungen der argu-
mentatio angesehen wurden; vgl. Lausberg §§ 261 f., 430; Martin 58f., 95, 124.
Das Dispositionsschema wird an der Gerichtsrede exemplifiziert, dem genus iudi-
ciale, gilt aber auch für die Beratungsrede, das genus deliberativum - wie die Cas-
sius-Rede zeigt. Zu den beiden genera vgl. auch A. 116.
51 Lausberg §§ 263 f.; Martin 60 f.; Fuhrmann 83 f.
52 Lausberg §§ 289 f.; Martin 75 f.; Fuhrmann 86 f.
53 Lausberg §§ 348 f., 430; Martin 95 f.; Fuhrmann 89 f.
54 Lausberg §§ 431 f.; Martin 147 f.; Fuhrmann 97 f.
55 Nörr (1983) 202 nimmt an, daß die peroratio völlig fehle.
56 Saepe numero (43.1) bis consiliis eguisset (in 43.2).
Joseph Georg Wolf
2. Die Rede ist streng nach den rhetorischen Kunstregein komponiert.49 Ihre
Teile sind leicht zu unterscheiden.50 Das exordium51 endet in 43.2 mit res publica
consiliis eguisset. Eine narratio52 schließt sich an, die aber sehr kurz gehalten ist;
sie besteht nur aus dem Satz quod hodie venit etc. Die argumentatio55 beginnt mit
43.3: decernite hercule inpunitatem: auf eine probatio (43.3) folgt eine refutatio
(43.4) und wieder eine probatio (44.1 und 2), mit der sie dann zunächst endet.
Die peroratio5"' beschränkt sich auf eine indignatio (44.3)55; sie beschließt auch
nicht die Rede. Vielmehr wird die argumentatio noch einmal aufgenommen, und
zwar mit einer weiteren refutatio, die zu einer Schlußsentenz führt (44.4).
3. In der Einleitung56 seiner Rede verbindet Cassius die übliche Selbst-
darstellung mit dem Gegenstand der Verhandlung, den er außerdem
sofort in ein Argumentations- und Wertschema einordnet. Contra insti-
(Forts. Fußnote 48)
‘Meinung’ zu äußern (‘Dic, Marce Tulli’); seine Aufforderung hieß sententiam
rogare. Für die Äußerung des Senators wird darum in nicht technischer Rede auch
respondere verwendet: ita dissonae voces respondebant (45.1); vgl. ann. 3.34.2, Plin.
epist. 9.13.19. - Ohne Bezug auf die Prozedur ist dagegen: C. Cassius ... disseruit
(42.2); das sachlich-neutrale disserere wird von Tacitus aber gern für die Stellung-
nahme des Senators gebraucht: ann. 2.33.2, 3.59.1, 13.41.4. Untechnisch ist auch:
nova senatus decreta postularentur (43.1); zu decretum s. aber Mommsen 995. -
Einer Fachterminologie bedient sich Tacitus, schließlich, in dem Satz: pronuntiemus
ultro dominum iure caesum videri (43.4). Pronuntiare wird technisch gebraucht für
den Urteilsspruch im Kognitionsverfahren, und auf iure caesum videri lautete die
Entscheidung, wenn eine Mordtat nicht rechtswidrig war; vgl. etwa Liv. 4.15.1:
Maelium iure caesum videri pronuntiavit, Sen. nat. quaest. 1.16.1: Augustus ... non
pronuntiavit (hunc) iure caesum videri; weit. Nachw. bei Brissonius, De formulis
etc. c. 218. Die Urteilsterminologie wird in 43.4. aber nicht im eigentlichen Sinne
gebraucht; der Senat hat nicht über die Rechtmäßigkeit der Mordtat zu entscheiden;
er hat überhaupt kein Urteil zu fällen, denn er tagt ja nicht als Gericht; zur Funktion
dieser Ausdrucksweise nach A. 106. Die übliche Vorstellung, Tacitus vermeide nach
Möglichkeit Fachausdrücke (vgl. etwa M. v. Albrecht, Meister röm. Prosa [1971]
187 A. 42) ist in dieser Allgemeinheit kaum richtig.
49 Siehe schon Nörr (1983) 201 f.
50 Die antike Schulrhetorik unterschied gewöhnlich vier oder fünf Teile, je nach dem,
ob probatio und refutatio als selbständige partes oder als Unterabteilungen der argu-
mentatio angesehen wurden; vgl. Lausberg §§ 261 f., 430; Martin 58f., 95, 124.
Das Dispositionsschema wird an der Gerichtsrede exemplifiziert, dem genus iudi-
ciale, gilt aber auch für die Beratungsrede, das genus deliberativum - wie die Cas-
sius-Rede zeigt. Zu den beiden genera vgl. auch A. 116.
51 Lausberg §§ 263 f.; Martin 60 f.; Fuhrmann 83 f.
52 Lausberg §§ 289 f.; Martin 75 f.; Fuhrmann 86 f.
53 Lausberg §§ 348 f., 430; Martin 95 f.; Fuhrmann 89 f.
54 Lausberg §§ 431 f.; Martin 147 f.; Fuhrmann 97 f.
55 Nörr (1983) 202 nimmt an, daß die peroratio völlig fehle.
56 Saepe numero (43.1) bis consiliis eguisset (in 43.2).