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Arno Borst
Jahrhundert abgegeben hatten. Vielleicht versteckten sich am Boden-
see, im Umkreis von St. Gallen, Reichenau und Konstanz, noch mehr
solche Kostbarkeiten.3
Binder, in der Historie klassischer Texte so bewandert wie in der
neueren Bibliotheksgeschichte, löste die beschrifteten Blätter und
Streifen zwischen 1935 und 1938 von den Ratsakten ab. Da er sich auf
antike und moderne Schriftzüge besser als auf mittelalterliche ver-
stand, legte er die ersten Funde im Sommer 1936 einem Fachmann vor,
dem Rechtshistoriker Franz Beyerle, der an der Universität Leipzig
lehrte und seine Heimatstadt Konstanz öfter besuchte. Beyerle war
sofort Feuer und Flamme. Er sah, daß mehrere Blätter seltene
juristische und historische Texte aus dem 13. Jahrhundert präsentier-
ten, schrieb sich einige ab und lieh sich andere im Oktober 1936 nach
Leipzig aus, um sie zu analysieren und vielleicht zu publizieren.4
Aus Leipzig schrieb im Januar 1937 der Mittelalterhistoriker Her-
mann Heimpel, nach Beyerles Mitteilung habe Binder auch naturkund-
liche Texte ersten Ranges ans Licht gezogen, darunter die älteste
Handschrift eines astronomischen Werks von Hermann dem Lahmen,
dem berühmtesten Reichenauer Mönch des 11. Jahrhunderts, „wenn
wir nicht überhaupt ein Stück der Vorlage vor uns haben, worauf
Auslassungen und Umstellungen hinzudeuten scheinen“.5 Dieses Frag-
3 Fragment Nr. 144, hg. von Holder, Handschriften Bd. 2 S. 591 f., 738, für
Bibliotheksheimat Reichenau; für St. Gallen Alban Dold, Zum Langobarden-
gesetz. Neue Bruchstücke der ältesten Handschrift des Edictus Rothari, DA 4
(1941) S. 1-52, hier S. 1-17, 45-52; Florus van de Rhee, Zum Langobardenge-
setz, DA 24 (1968) S. 224-227. Dazu Kurt Hannemann, Geschichte der
Erschließung der Handschriftenbestände der Reichenau in Karlsruhe, in:
Maurer, Reichenau S. 159-252, hier S. 211-218. - Wiederholt angeführte
Literatur wird in den Anmerkungen von vornherein abgekürzt und vollständig
nur im Literaturverzeichnis unten S. 128-131 zitiert.
4 Konstanz, Stadtarchiv, Benützerakten Beyerle, Brief vom 24.10.1936, Postkar-
ten vom 28.10. und 18.11.1936, Briefe vom 24.12.1936 und 2.2.1937. Demnach
fand Beyerle Fragmente des Schwabenspiegels, der Chroniken Ottos von
Freising und Ottos von St. Blasien und eine Urkunde von 1204. Veröffentlicht
wurde nur diese, von Ingrid Seidenfaden, Aus den frühen Quellen zur
Theatergeschichte der Stadt Konstanz, Zeitschrift für die Geschichte des
Oberrheins 107 (1959) S. 291-320, hier S. 319 f., wo von den Fundumständen
nicht die Rede ist.
5 Konstanz, Stadtarchiv, Benützerakten Heimpel, Briefe vom 18.1. und
18.4.1937. Demzufolge zeigte Beyerle Heimpel Abschriften von dem Hermann-
Arno Borst
Jahrhundert abgegeben hatten. Vielleicht versteckten sich am Boden-
see, im Umkreis von St. Gallen, Reichenau und Konstanz, noch mehr
solche Kostbarkeiten.3
Binder, in der Historie klassischer Texte so bewandert wie in der
neueren Bibliotheksgeschichte, löste die beschrifteten Blätter und
Streifen zwischen 1935 und 1938 von den Ratsakten ab. Da er sich auf
antike und moderne Schriftzüge besser als auf mittelalterliche ver-
stand, legte er die ersten Funde im Sommer 1936 einem Fachmann vor,
dem Rechtshistoriker Franz Beyerle, der an der Universität Leipzig
lehrte und seine Heimatstadt Konstanz öfter besuchte. Beyerle war
sofort Feuer und Flamme. Er sah, daß mehrere Blätter seltene
juristische und historische Texte aus dem 13. Jahrhundert präsentier-
ten, schrieb sich einige ab und lieh sich andere im Oktober 1936 nach
Leipzig aus, um sie zu analysieren und vielleicht zu publizieren.4
Aus Leipzig schrieb im Januar 1937 der Mittelalterhistoriker Her-
mann Heimpel, nach Beyerles Mitteilung habe Binder auch naturkund-
liche Texte ersten Ranges ans Licht gezogen, darunter die älteste
Handschrift eines astronomischen Werks von Hermann dem Lahmen,
dem berühmtesten Reichenauer Mönch des 11. Jahrhunderts, „wenn
wir nicht überhaupt ein Stück der Vorlage vor uns haben, worauf
Auslassungen und Umstellungen hinzudeuten scheinen“.5 Dieses Frag-
3 Fragment Nr. 144, hg. von Holder, Handschriften Bd. 2 S. 591 f., 738, für
Bibliotheksheimat Reichenau; für St. Gallen Alban Dold, Zum Langobarden-
gesetz. Neue Bruchstücke der ältesten Handschrift des Edictus Rothari, DA 4
(1941) S. 1-52, hier S. 1-17, 45-52; Florus van de Rhee, Zum Langobardenge-
setz, DA 24 (1968) S. 224-227. Dazu Kurt Hannemann, Geschichte der
Erschließung der Handschriftenbestände der Reichenau in Karlsruhe, in:
Maurer, Reichenau S. 159-252, hier S. 211-218. - Wiederholt angeführte
Literatur wird in den Anmerkungen von vornherein abgekürzt und vollständig
nur im Literaturverzeichnis unten S. 128-131 zitiert.
4 Konstanz, Stadtarchiv, Benützerakten Beyerle, Brief vom 24.10.1936, Postkar-
ten vom 28.10. und 18.11.1936, Briefe vom 24.12.1936 und 2.2.1937. Demnach
fand Beyerle Fragmente des Schwabenspiegels, der Chroniken Ottos von
Freising und Ottos von St. Blasien und eine Urkunde von 1204. Veröffentlicht
wurde nur diese, von Ingrid Seidenfaden, Aus den frühen Quellen zur
Theatergeschichte der Stadt Konstanz, Zeitschrift für die Geschichte des
Oberrheins 107 (1959) S. 291-320, hier S. 319 f., wo von den Fundumständen
nicht die Rede ist.
5 Konstanz, Stadtarchiv, Benützerakten Heimpel, Briefe vom 18.1. und
18.4.1937. Demzufolge zeigte Beyerle Heimpel Abschriften von dem Hermann-