12
Arno Borst
sie hier das Kriegsende heil überstanden hatten. Wenigstens das wollte
ich wissen.7
Ich durfte in den Schränken und Schachteln des Stadtarchivs kramen
und sichtete mit wachsender Hast Hunderte von Schnipseln aus
theologischer, liturgischer und juristischer Gebrauchsliteratur, größ-
tenteils aus der Konstanzer Dombibliothek des 14. und 15. Jahrhun-
derts, nach der Reformation zum Buchbinden entweiht, mit Recht, wie
mir schien.8 Unversehens stieß ich auf ein speckiges Pergament,
gefaltet, vier Seiten mit viel älteren Buchstaben: die verlorene
Handschrift! Hinterher kam noch die Fragmentenmappe zum Vor-
schein, die am 30. September 1942 nach der Rücksendung aller Funde
aus Leipzig von Binders Helfern säuberlich angelegt worden war.9
Der Rausch des Finderglücks verflog schnell, der lateinische Text
mutete mir allerhand zu. Gleich auf der ersten Seite stand zu Beginn
der zweiten Zeile mit Großbuchstaben ein rätselhaftes Wort, dessen
Anfang überdies der Schere zum Opfer gefallen war, -LAZET, mit der
anschließenden Erläuterung id est cor, „das heißt Herz“. Am Schluß
der fünften Zeile war von einem astrolab- die Rede, einem griechischen
‘Sterngreifer’ also. Am Ende der ersten Seite entzifferte ich, daß man
mit diesem Gerät die Sternhöhe anpeilen müsse, und stolperte in der
siebtletzten Zeile wieder über den Rest eines unbekannten Wortes,
ALCOTO-. War das nicht Arabisch?
Ich eilte in die Universitätsbibliothek und griff zur neuesten, 1931
gedruckten Ausgabe von Hermanns Schrift ‘Über die Abmessung des
Astrolabs’; er hatte sie um 1045 verfaßt. Da standen beide Worte
7 Ermutigend wirkte das Schicksal der sogenannten Weltchronik von Muri. Nach
Oesch, Berno S. 197 f. galt sie seit 1846 als verloren, kurz vor 1974 wurde sie
wiedergefunden nach Franz-Josef Schmale, Die Reichenauer Weltchronistik,
in: Maurer, Reichenau S. 125-158, hier S. 150 Anm. 101. Ich sah sie 1982 in
Sarnen und hörte ihre merkwürdige Geschichte.
8 Helmut Maurer, Liturgische Handschriften des Konstanzer Münsters. Ein
Fundbericht und ein Katalog, Schriften des Vereins für Geschichte des
Bodensees und seiner Umgebung 93 (1975) S. 43-54, hier S. 46 zu diesem
Bestand. Ein Querschnitt durch das Erhaltene: Bibliophile Kostbarkeiten.
Handschriften aus der Konstanzer Dombibliothek, hg. von Wolfgang Irtenkauf
(1987) S. 40-75.
9 Konstanz, Stadtarchiv, Fragmentenmappe 2. Die bei Borst, Forschungsbericht
S. 454 Anm. 170 versprochene Edition des Fragments im Anhang unten S.
112-127. Eine erste Skizze der nachstehenden Auswertung trug ich Ende 1988
im Donaueschinger Wissenschaftsforum vor: Wie kam die arabische Sternkunde
ins Kloster Reichenau? (Konstanzer Universitätsreden Heft 169, 1988).
Arno Borst
sie hier das Kriegsende heil überstanden hatten. Wenigstens das wollte
ich wissen.7
Ich durfte in den Schränken und Schachteln des Stadtarchivs kramen
und sichtete mit wachsender Hast Hunderte von Schnipseln aus
theologischer, liturgischer und juristischer Gebrauchsliteratur, größ-
tenteils aus der Konstanzer Dombibliothek des 14. und 15. Jahrhun-
derts, nach der Reformation zum Buchbinden entweiht, mit Recht, wie
mir schien.8 Unversehens stieß ich auf ein speckiges Pergament,
gefaltet, vier Seiten mit viel älteren Buchstaben: die verlorene
Handschrift! Hinterher kam noch die Fragmentenmappe zum Vor-
schein, die am 30. September 1942 nach der Rücksendung aller Funde
aus Leipzig von Binders Helfern säuberlich angelegt worden war.9
Der Rausch des Finderglücks verflog schnell, der lateinische Text
mutete mir allerhand zu. Gleich auf der ersten Seite stand zu Beginn
der zweiten Zeile mit Großbuchstaben ein rätselhaftes Wort, dessen
Anfang überdies der Schere zum Opfer gefallen war, -LAZET, mit der
anschließenden Erläuterung id est cor, „das heißt Herz“. Am Schluß
der fünften Zeile war von einem astrolab- die Rede, einem griechischen
‘Sterngreifer’ also. Am Ende der ersten Seite entzifferte ich, daß man
mit diesem Gerät die Sternhöhe anpeilen müsse, und stolperte in der
siebtletzten Zeile wieder über den Rest eines unbekannten Wortes,
ALCOTO-. War das nicht Arabisch?
Ich eilte in die Universitätsbibliothek und griff zur neuesten, 1931
gedruckten Ausgabe von Hermanns Schrift ‘Über die Abmessung des
Astrolabs’; er hatte sie um 1045 verfaßt. Da standen beide Worte
7 Ermutigend wirkte das Schicksal der sogenannten Weltchronik von Muri. Nach
Oesch, Berno S. 197 f. galt sie seit 1846 als verloren, kurz vor 1974 wurde sie
wiedergefunden nach Franz-Josef Schmale, Die Reichenauer Weltchronistik,
in: Maurer, Reichenau S. 125-158, hier S. 150 Anm. 101. Ich sah sie 1982 in
Sarnen und hörte ihre merkwürdige Geschichte.
8 Helmut Maurer, Liturgische Handschriften des Konstanzer Münsters. Ein
Fundbericht und ein Katalog, Schriften des Vereins für Geschichte des
Bodensees und seiner Umgebung 93 (1975) S. 43-54, hier S. 46 zu diesem
Bestand. Ein Querschnitt durch das Erhaltene: Bibliophile Kostbarkeiten.
Handschriften aus der Konstanzer Dombibliothek, hg. von Wolfgang Irtenkauf
(1987) S. 40-75.
9 Konstanz, Stadtarchiv, Fragmentenmappe 2. Die bei Borst, Forschungsbericht
S. 454 Anm. 170 versprochene Edition des Fragments im Anhang unten S.
112-127. Eine erste Skizze der nachstehenden Auswertung trug ich Ende 1988
im Donaueschinger Wissenschaftsforum vor: Wie kam die arabische Sternkunde
ins Kloster Reichenau? (Konstanzer Universitätsreden Heft 169, 1988).