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Borst, Arno; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1989, 1. Abhandlung): Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende: vorgetragen am 11. Februar 1989 — Heidelberg: Winter, 1989

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https://doi.org/10.11588/diglit.48156#0033
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Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende

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zentralen Punkt überwand Karl die katholischen, germanischen,
bäuerlichen Skrupel: Mit kaiserlichem Selbstbewußtsein eignete er sich
die Kosmologie der heidnischen Spätantike an und zügelte dabei ihren
astrologischen Überschwang, wirksamer als Isidor. Zu seinen kostbar-
sten Schätzen zählte Karl einen runden Tisch (discus) aus Silber, „von
wunderbarer Größe und Schönheit, auf dem, voneinander getrennt,
eine Karte des ganzen Erdkreises, ein Bild des Sternhimmels und eine
Darstellung der Planetenbahnen in erhabener Ausführung strahlten“.
Die drei Kreise, vielleicht in Form eines Kleeblatts ausgelegt und mit
Personifikationen antiken Stils geschmückt, demonstrierten, wie Gott
die Welt nach Zahl und Maß eingerichtet hatte.
Die Sterblichen durften die wunderschöne Schöpfung im ganzen
nachempfinden und einzelne ihrer Erscheinungen, etwa Sonnenfinster-
nisse, sogar vorausberechnen. Denn Karls Helfer befreiten die Mathe-
matik vom Odium der Sterndeuterei. Der Mensch konnte jedoch nicht,
was ihm das Astrolab außerdem suggerierte, die Kreise des Himmels
und der Erde ineinanderschieben, sie von außen beobachten und so
sein Maß für Lebenszeit und Lebensraum selber bestimmen.30 Genau-
so urteilten die Mönche in karolingischen Klöstern, etwa auf der
Reichenau. Selbst wenn ihnen ein Astrolab zu Gesicht gekommen
wäre, sie hätten es nicht angefaßt.31
Die Historiker zerbrechen sich nun seit über hundert Jahren den
Kopf, wodurch dann im westlichen Mittelalter ein Zeitalter des

30 Annales Bertiniani a. 842, hg. von Felix Grat u. a., Annales de Saint-Bertin
(Societe de l’histoire de France Bd. 470, 1964) S. 41. Zur Rekonstruktion des
Tisches, den Lothar I. 842 zerschneiden ließ, F. N. Estey, Charlemagne’s Silver
Celestial Table, Speculum 18 (1943) S. 112-117; einleuchtender Percy Ernst
Schramm, Karl der Große: Denkart und Grundauffassungen (zuerst 1964), jetzt
in: Derselbe, Kaiser Könige und Päpste. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte
des Mittelalters, Bd. 1 (1968) S. 302-341, hier S. 316-321. Unhaltbar ist die
Interpretation des discus als Astrolab, ausführlich bei Zinner, Astrolab S. 12-14,
kürzer bei Zinner, Ptolemaeus S. 287. Zur Aufwertung der Mathematik Borst,
Zahlenkampfspiel S. 37-43; Borst, Computus S. 20 f.
31 Hans Wentzel, Astrolabium, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte,
Bd. 1 (1937) Sp. 1161-1166, hier Sp. 1162 behauptet wie andere zuvor, daß
Schulmeister Tatto von Reichenau um 825 Unterricht am Astrolab erteilt habe.
Diese ‘Nachricht’ entstammt einem fingierten Tagebuch Walahfrid Strabos von
1857. Zu dessen wirklichem Autor und seiner unschuldigen Absicht Michael
Hartig, Die Klosterschule und ihre Männer, in: Die Kultur der Abtei Reichenau,
hg. von Konrad Beyerle, Bd. 2 (1925) S. 621-644, hier S. 622; Drecker in der
Edition von Hermann, De mensura astrolabii S. 202.
 
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