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Borst, Arno; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1989, 1. Abhandlung): Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende: vorgetragen am 11. Februar 1989 — Heidelberg: Winter, 1989

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https://doi.org/10.11588/diglit.48156#0054
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Arno Borst

Nur die umgekehrte Reihenfolge erklärt den Befund: Der Verfasser
des Fragments wurde durch Astrolabliteratur auf das Instrument
neugierig gemacht. Daraufhin beschaffte er ein Astrolab aus Katalo-
nien, sonst hätte er sich kaum auf die Mühe der Kompilation
eingelassen. Mit ihr schlug er zugleich eine Brücke zu den nachmaligen
Bearbeitungen in Lothringen und in Alemannien, die vor 1050 bereits
angereicherte Astrolabtypen schilderten und eine dritte Rezeptions-
stufe begannen. Das Astrolab des Fragments steht demnach den
frühesten nordspanischen Typen näher als den späteren westeuropäi-
schen; der Text des Fragments indes paßt genau in die Mitte zwischen
katalanischen Anleitungen und lothringischen Bearbeitungen. Chro-
nologisch sollten wir ihm vorläufig das Menschenalter zwischen 980 und
1010 offenhalten.
Und geographisch? Nach allem, was die herrschende Meinung
vertritt, darf es zu dieser Zeit noch keinesfalls auf der Insel Reichenau
geschrieben sein, vierzig Tagemärsche nördlich vom Wendekreis des
Halbmonds, vielmehr im europäischen Grenzgebiet zum Islam, wenn
schon nicht in Katalonien selbst. Danach fragte ich 1984 Heimpels
Nachfolger Hartmut Hoffmann in Göttingen, der die mitteleuropäi-
sche Schriftgeschichte des späten 10. und frühen 11. Jahrhunderts
soeben genauestens erforscht hatte. Seine Antwort kam prompt und
entschieden: „Die Fragmente Ihres Astrolab-Traktats sind südwest-
deutsch. vielleicht reichenauisch, ... gewiß nicht sanktgallisch, auch
nicht einsiedelisch. ... Mir scheint eine Datierung ‘circa 1000’ richtiger
zu sein als ‘erste Hälfte des 11. Jahrhunderts’“.61
Gewöhnlich lassen sich Schriftformen nicht auf ein Jahrzehnt
datieren. Mancher malt noch dieselben Schnörkel, die er vor fünfzig
Jahren in der Schule gelernt hat; das war im Mittelalter erst recht so.
Aber Einschnitte gab es. Auf der Reichenau trafen sie mit Phasen der
Buchmalerei, diese mit zwei Stufen der Klosterreform zusammen. Die
Blütezeit der Schreibschule, der Hoffmann an die sechzig Erzeugnisse
zuweist, begann um 970 glanzvoll; es kann kein Zufall sein, daß zur
selben Zeit die ottonische Klosterreform auf der Reichenau einzog.
Was sie anstrebte, wirkte sich unmittelbar auf die Buchgestaltung aus:
Zum Hauptziel monastischen Lebens erhob sie den festlichen Gottes-
dienst; er gab dem Schöpfer des Kosmos einen Widerschein der
sinnfälligen Schönheit zurück, die er den Menschen verlieh. In diesem

61 Brief von Hartmut Hoffmann an mich vom 30.3.1984. Genaue paläographische
Analyse des Fragments im Anhang unten S. 114-117.
 
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