Metadaten

Borst, Arno; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1989, 1. Abhandlung): Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende: vorgetragen am 11. Februar 1989 — Heidelberg: Winter, 1989

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48156#0073
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende

63

die Zeitmessung und Zeitdisziplin des modernen Europa.101 Wohl
begannen sie seit dem 8. Jahrhundert mit der Rationierung und
Rationalisierung der Zeit. Doch die Schwankungen der Lebensrhyth-
men, zwischen Tag und Nacht, Sommer und Winter, Jung und Alt,
Handwerk und Kopfarbeit, wurden innerhalb des örtlichen Konvents
ausgeglichen, nicht durch Instrumente generell gleichgerichtet. Abbo
übernahm aus der spätantiken, neuplatonischen Kosmologie, insbe-
sondere von Macrobius und Calcidius, manche Theorie, jedoch
brauchte er dafür kein Rechengerät. Vom Astrolab sagte er gar nichts,
vom Abacus nicht viel.102 Verärgert stichelte der Aristoteliker Gerbert
um 980, das sei ein merkwürdiger Philosoph, der nichts lernen wolle
und alles von selber wisse.103
Das hieß Abbo verkennen. Ihm ging es nicht um Modernität oder
Originalität; es ging ihm um pünktliche Nutzung der gestundeten Zeit,
der Jahrhunderte seit Erschaffung der Welt, der Jahre seit Christi
Geburt, der ungewissen Momente bis zum sicheren Tod, der verbor-
genen Spanne bis zum Jüngsten Gericht. Die apokalyptische Erregung
am Ende des ersten christlichen Jahrtausends, über die Gerbert kühl
hinwegsah, wühlte Abbo zutiefst auf. Er empfand, daß sein Leben
dabei auf dem Spiel stand, aber zu falscher Sicherheit verleitet wurde.
Heftig widersprach er um 970 Priestern in Paris, die für das Jahr 1000
nach Christus den Weltuntergang voraussagten. Als ob einer von uns
die Fülle der Zeit jetzt schon in Händen trüge und verschwenden
könnte!104

101 So David S. Landes, Revolution in Time. Clocks and the Making of the Modern
World (1983) S. 58-66; ähnlich Julius T. Fraser, Die Zeit: vertraut und fremd
(1988) S. 117 f., 236-238. Dagegen Borst, Computus S. 19-27.
102 Abbo, Abacus, hg. von Bubnov, Gerbert S. 203 f. Zu den arithmetischen und
astronomischen Schriften Vyver, Abbon S. 137-150; ergänzend Gillian R. Evans
und A. M. Peden, Natural Science and the Liberal Arts in Abbo of Fleury’s
Commentary on the Calculus of Victorius of Aquitaine, Viator 16 (1985) S.
109-127, auch zum Einfluß von Macrobius und Calcidius, der weiter ging als dort
vermerkt.
103 Gerbert, Regulae de numerorum abaci rationibus, Widmungsbrief an Konstan-
tin von Fleury, hg. von Bubnov, Gerbert S. 7, mit den Fußnoten des
Herausgebers. Dazu Mostert, Abbo S. 22; zum Philosophiebegriff Riehe,
Gerbert S. 51-53, 245-255.
104 Abbo, Liber Apologeticus, in: Opera Sp. 471 f. Zur diffusen Endzeiterwartung
Horst Dieter Rauh, Das Bild des Antichrist im Mittelalter: Von Tyconius zum
Deutschen Symbolismus (21978) S. 153-164; Georges Duby, L’An Mil (1980) S.
33-40,105-131. Zu Gerberts Gleichgültigkeit Riehe, Gerbert S. 221. Zu Abbos
Reaktion Bruno Barbatti, Der heilige Adalbert von Prag und der Glaube an den
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften