72
Arno Borst
Beispiele sollen die damit verbundene Zeitdeutung in Berns Nachbar-
schaft umschreiben.
Der Kölner Domschulmeister Ragimbold, ein Schüler Fulberts von
Chartres und sogar in Rom berühmt, hörte um 1025, daß man in
Lüttich, bei den Erben Gerberts und Fulberts, ein Astrolab besitze,
und bat den jungen Amtsbruder Radulf dort, es ihm auszuleihen. Die
Lütticher waren eher für Arithmetik und Geometrie als für Sternkunde
und Zeitbestimmung zuständig; trotzdem antwortete Radulf hochnä-
sig, mit horazischer Pointe: „Ich hätte Euch gern ein astrolabium zur
Prüfung geschickt, doch wir haben nur ein Modell (exemplar), um
danach ein richtiges zu bauen. Wenn Ihr von seiner Theorie (scientia)
etwas begreifen wollt, müßt Ihr zur Lamberti-Messe hierherkommen.
Vielleicht wird es Euch nicht gereuen; ansonsten hilft Euch der bloße
Anblick eines Astrolabs nicht mehr als ein Gemälde dem Blinden oder
dem Gichtigen ein lauer Umschlag“.126
Wer den Apparat richtig bauen oder benutzen wollte, brauchte also
außer handwerklichem Geschick und der Kenntnis spezieller Metho-
den theoretische Einsichten. Sie wurden in Lüttich, kaum anders als
vordem in Cordoba, einzelnen Vertrauenswürdigen und Bildungswil-
ligen mündlich mitgeteilt, weder durch Lehrgänge noch durch Lehr-
bücher allgemein verbreitet. Dadurch behauptete die Lütticher Dom-
schule ihren esoterischen Ruf in der Christenheit und erzwang die
Unterwerfung sogar von einem älteren Lehrer aus der erzbischöflichen
Metropole. Denn der wißbegierige Ragimbold zog schließlich von Köln
ganz nach Lüttich um.
Vom elitären Modernismus der Lütticher distanzierte sich Ekkehard
IV. von St. Gallen, seiner eigenen Klostertradition zuliebe. Bischof
Notker, der den Ruhm der Domschule in Lüttich vor fünfzig Jahren
begründet hatte, war schließlich aus St. Gallen gekommen. Wohl
während Ekkehard die Mainzer Domschule leitete, zwischen 1025 und
1035, betonte er in einer Dichtung, daß den heiligen drei Königen ein
126 Epistola Nr. 5, hg. von Paul Tannery, Une correspondance d'ecolätres du
onzieme siede (zuerst 1901), jetzt in: Derselbe, Memoires scientifiques, Bd. 5
(1922) S. 229-303, hier S. 283. Dazu ebd. S. 239 f.; Manitius, Literatur Bd. 2 S.
778-781; zur arithmetischen Kompetenz der Lütticher Schule Borst, Zahlen-
kampfspiel S. 98-111. Die Vermutung von Destombes, Astrolabe S. 29, daß das
Lütticher Modell zwanzig Jahre später zu Hermann dem Lahmen gelangt sei und
ihm als Grundlage für ‘De mensura astrolabii’ gedient habe, unterschätzt
Reichweite und Aktualität der Reichenauer Informationen; siehe unten Anm.
144.
Arno Borst
Beispiele sollen die damit verbundene Zeitdeutung in Berns Nachbar-
schaft umschreiben.
Der Kölner Domschulmeister Ragimbold, ein Schüler Fulberts von
Chartres und sogar in Rom berühmt, hörte um 1025, daß man in
Lüttich, bei den Erben Gerberts und Fulberts, ein Astrolab besitze,
und bat den jungen Amtsbruder Radulf dort, es ihm auszuleihen. Die
Lütticher waren eher für Arithmetik und Geometrie als für Sternkunde
und Zeitbestimmung zuständig; trotzdem antwortete Radulf hochnä-
sig, mit horazischer Pointe: „Ich hätte Euch gern ein astrolabium zur
Prüfung geschickt, doch wir haben nur ein Modell (exemplar), um
danach ein richtiges zu bauen. Wenn Ihr von seiner Theorie (scientia)
etwas begreifen wollt, müßt Ihr zur Lamberti-Messe hierherkommen.
Vielleicht wird es Euch nicht gereuen; ansonsten hilft Euch der bloße
Anblick eines Astrolabs nicht mehr als ein Gemälde dem Blinden oder
dem Gichtigen ein lauer Umschlag“.126
Wer den Apparat richtig bauen oder benutzen wollte, brauchte also
außer handwerklichem Geschick und der Kenntnis spezieller Metho-
den theoretische Einsichten. Sie wurden in Lüttich, kaum anders als
vordem in Cordoba, einzelnen Vertrauenswürdigen und Bildungswil-
ligen mündlich mitgeteilt, weder durch Lehrgänge noch durch Lehr-
bücher allgemein verbreitet. Dadurch behauptete die Lütticher Dom-
schule ihren esoterischen Ruf in der Christenheit und erzwang die
Unterwerfung sogar von einem älteren Lehrer aus der erzbischöflichen
Metropole. Denn der wißbegierige Ragimbold zog schließlich von Köln
ganz nach Lüttich um.
Vom elitären Modernismus der Lütticher distanzierte sich Ekkehard
IV. von St. Gallen, seiner eigenen Klostertradition zuliebe. Bischof
Notker, der den Ruhm der Domschule in Lüttich vor fünfzig Jahren
begründet hatte, war schließlich aus St. Gallen gekommen. Wohl
während Ekkehard die Mainzer Domschule leitete, zwischen 1025 und
1035, betonte er in einer Dichtung, daß den heiligen drei Königen ein
126 Epistola Nr. 5, hg. von Paul Tannery, Une correspondance d'ecolätres du
onzieme siede (zuerst 1901), jetzt in: Derselbe, Memoires scientifiques, Bd. 5
(1922) S. 229-303, hier S. 283. Dazu ebd. S. 239 f.; Manitius, Literatur Bd. 2 S.
778-781; zur arithmetischen Kompetenz der Lütticher Schule Borst, Zahlen-
kampfspiel S. 98-111. Die Vermutung von Destombes, Astrolabe S. 29, daß das
Lütticher Modell zwanzig Jahre später zu Hermann dem Lahmen gelangt sei und
ihm als Grundlage für ‘De mensura astrolabii’ gedient habe, unterschätzt
Reichweite und Aktualität der Reichenauer Informationen; siehe unten Anm.
144.