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Borst, Arno; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1989, 1. Abhandlung): Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende: vorgetragen am 11. Februar 1989 — Heidelberg: Winter, 1989

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https://doi.org/10.11588/diglit.48156#0112
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Arno Borst

Andererseits erleichterte das Astrolab seit etwa 1480 die Anfänge
der ozeanischen Navigation, weil auf den portugiesischen Entdek-
kungsreisen die praktischen Hilfsmittel der Küstenschiffahrt versagten
und die Abweichungen am Magnetkompaß noch nicht durchschaut
waren. Christoph Kolumbus versuchte am 2. Februar 1493 bei seiner
ersten Amerikafahrt die Höhe des Polarsterns und wohl auch die
Mittagshöhe der Sonne mit einem Astrolab zu messen, was ihm wegen
des hohen Wellenganges mißlang. Staatliche Behörden prüften auf der
iberischen Halbinsel noch eine Zeitlang die Vertrautheit mit dem
Instrument als Garantie für nautische Kompetenz. Doch überforderte
seine schwierige Handhabung die meisten Seebären; lieber vertrauten
sie einfacheren Behelfen.183
Daß das Astrolab wirklich so exakt sei, wie Raimund von Marseille
gepredigt hatte, war schon von Bacon und Villani pragmatisch
bezweifelt worden; im Jahr des Kolumbus 1493 verneinte es der
italienische Humanist Giovanni Pico della Mirandola prinzipiell. Ein
jüdischer Fachmann aus Südspanien lieferte ihm das Hauptargument.
Zwei Instrumentenmacher hatten mit größtem Sachverstand, summa
ratione, zwei riesige Astrolabien gebaut, jedes etwa einen Meter im
Durchmesser, und mit ihnen zur selben Zeit am selben Ort die
Sonnenhöhe gemessen. Die Anzeigen differierten um zwei Minuten.
Das Ergebnis des Experiments sprach nicht nur gegen die Astrologie,
die noch mit Astrolabien arbeitete; es sprach gegen jeden Versuch, den
freien Willen des Menschen zu determinieren, seinen Geist der Materie
zu unterwerfen. Wenn die Zeit auf Erden mit noch so gewaltigen
Rechenmaschinen bloß ungefähr zu ermitteln war, erübrigten sich auch
alle Bemühungen des 15. Jahrhunderts, die kirchliche Zeitrechnung
durch Kalenderreform mit den Himmelsbewegungen zu koordinie-
ren.184

183 Bartholome de Las Casas, Historia de las Indias I, 68, hg. von Juan Perez de
Tudela (Biblioteca de autores espanoles Bd. 95, 1957) S. 216 Kolumbus. Zur
Rolle des Astrolabs Richard Konetzke, Überseeische Entdeckungen und
Eroberungen, in: Propyläen Weltgeschichte, hg. von Golo Mann u. a., Bd. 6
(1964) S. 535-634, hier S. 543-549; skeptischer Wolfgang Reinhard, Geschichte
der europäischen Expansion, Bd. 1 (1983) S. 33-38. Zu den nautischen
Alternativen Bennett, Circle S. 27-37.
184 Giovanni Pico della Mirandola, Disputationes adversus astrologiam divinatri-
cem IX, 8, hg. von Eugenio Garin. Bd. 2 (1952) S. 322-324. Dazu unerreicht
Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance
(1927) S. 121-129; zu euphorisch Turner, Museum S. 40-45. Zur Kalenderre-
form Borst, Computus S. 60-63.
 
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