Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende
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Noch viel weniger benötigte Nikolaus Kopernikus das Astrolab für
rein astronomische Beobachtungen und Berechnungen. Sein Haupt-
werk sollte 1543 unter anderem die Kalenderreform vorantreiben, aber
auf völlig neue Grundlagen stellen. Kopernikus besprach ein instru-
mentum, quod astrolabium vocat Ptolemaeus; er durchschaute wie
Bacon, daß Ptolemaios eine kugelförmige Armillarsphäre gemeint
hatte, verbannte aber durch seine Wortwahl das flache Astrolab aus der
modernen Wissenschaft überhaupt. Die kopernikanische Wende zer-
trümmerte mit dem ptolemäischen Weltbild auch den letzten Ruhm des
scheibenförmigen Astrolabs, den Kosmos sowohl didaktisch überzeu-
gend als auch faktisch zutreffend abzubilden.185
Die Abtei Reichenau folgte dem europäischen Wandel von Wissen-
schaft und Gesellschaft, verspätet zunächst, danach um so abrupter. Im
ausgehenden 14. Jahrhundert beschafften sich die Inselmönche zwei
toledanische Tabellensammlungen zur Planetenbewegung, sowie eine
Liste zur astrologischen Planetenwirkung. Das Konstanzer Konzil,
dessen Klosterreform studierten Bürgern 1417 gleichen Rang wie adlig
Geborenen zubilligte, verstärkte das Interesse an der universitären
Sterndeutung, ohne daß die Reichenau noch einen Astronomen von
Hermanns Rang hervorgebracht hätte.186 Dafür sortierte sie im späten
15. oder frühen 16. Jahrhundert veraltete Werke zur Sternkunde aus
und überließ den Buchbindern jedenfalls komputistische Tabellen des
8. Jahrhunderts aus Irland, vermutlich auch das um 1000 kopierte
Lehrbuch der Astrolabkunde aus Fleury.187
185 De revolutionibus II, 14, hg. von Heribert M. Nobis und Bernhard Stickler
(Nicolaus Copernicus Gesamtausgabe Bd. 2, 1984) S. 109-111. Dazu Noel M.
Swerdlow und Otto Neugebauer, Mathematical Astronomy in Copernicus’ De
Revolutionibus, Bd. 1 (1984) S. 121 f.; Borst, Computus S. 63 f. Zur
ptolemäischen Armillarsphäre oben Anm. 17.
186 Pergamenthandschrift CLXXIII von 1380, mit Nachträgen bis 1425, beschrieben
bei Holder, Handschriften Bd. 1 S. 406 f., 683; Fragmente 108 und 155 aus dem
14. Jahrhundert, ebd. Bd. 2 S. 549 f., 607-611, 736, 738 f. Kurze astronomische
Notizen aus dem akademischen Milieu in drei Codices des 15. Jahrhunderts mit
anderen Hauptthemen: Papierhandschriften 145, 157 und 86, ebd. S. 317, 347,
711.
187 Fragment 107, hg. von Holder, Handschriften Bd. 2 S. 547-549, 736. die Tabelle
aus dem 8. Jahrhundert. Ebd. Bd. 3/2 S. 15-41 registriert Karl Preisendanz von
1414 bis 1474 mehrere Einbinde-Aktionen und starke Fluktuationen im
Buchbestand. Wäre unser Fragment schon damals von Reichenauer Buchbin-
dern zerschnitten oder der Konstanzer Dombibliothek überlassen worden, so
hätten sich wohl noch andere Reste des Lehrbuchs in Einbänden wiedergefun-
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Noch viel weniger benötigte Nikolaus Kopernikus das Astrolab für
rein astronomische Beobachtungen und Berechnungen. Sein Haupt-
werk sollte 1543 unter anderem die Kalenderreform vorantreiben, aber
auf völlig neue Grundlagen stellen. Kopernikus besprach ein instru-
mentum, quod astrolabium vocat Ptolemaeus; er durchschaute wie
Bacon, daß Ptolemaios eine kugelförmige Armillarsphäre gemeint
hatte, verbannte aber durch seine Wortwahl das flache Astrolab aus der
modernen Wissenschaft überhaupt. Die kopernikanische Wende zer-
trümmerte mit dem ptolemäischen Weltbild auch den letzten Ruhm des
scheibenförmigen Astrolabs, den Kosmos sowohl didaktisch überzeu-
gend als auch faktisch zutreffend abzubilden.185
Die Abtei Reichenau folgte dem europäischen Wandel von Wissen-
schaft und Gesellschaft, verspätet zunächst, danach um so abrupter. Im
ausgehenden 14. Jahrhundert beschafften sich die Inselmönche zwei
toledanische Tabellensammlungen zur Planetenbewegung, sowie eine
Liste zur astrologischen Planetenwirkung. Das Konstanzer Konzil,
dessen Klosterreform studierten Bürgern 1417 gleichen Rang wie adlig
Geborenen zubilligte, verstärkte das Interesse an der universitären
Sterndeutung, ohne daß die Reichenau noch einen Astronomen von
Hermanns Rang hervorgebracht hätte.186 Dafür sortierte sie im späten
15. oder frühen 16. Jahrhundert veraltete Werke zur Sternkunde aus
und überließ den Buchbindern jedenfalls komputistische Tabellen des
8. Jahrhunderts aus Irland, vermutlich auch das um 1000 kopierte
Lehrbuch der Astrolabkunde aus Fleury.187
185 De revolutionibus II, 14, hg. von Heribert M. Nobis und Bernhard Stickler
(Nicolaus Copernicus Gesamtausgabe Bd. 2, 1984) S. 109-111. Dazu Noel M.
Swerdlow und Otto Neugebauer, Mathematical Astronomy in Copernicus’ De
Revolutionibus, Bd. 1 (1984) S. 121 f.; Borst, Computus S. 63 f. Zur
ptolemäischen Armillarsphäre oben Anm. 17.
186 Pergamenthandschrift CLXXIII von 1380, mit Nachträgen bis 1425, beschrieben
bei Holder, Handschriften Bd. 1 S. 406 f., 683; Fragmente 108 und 155 aus dem
14. Jahrhundert, ebd. Bd. 2 S. 549 f., 607-611, 736, 738 f. Kurze astronomische
Notizen aus dem akademischen Milieu in drei Codices des 15. Jahrhunderts mit
anderen Hauptthemen: Papierhandschriften 145, 157 und 86, ebd. S. 317, 347,
711.
187 Fragment 107, hg. von Holder, Handschriften Bd. 2 S. 547-549, 736. die Tabelle
aus dem 8. Jahrhundert. Ebd. Bd. 3/2 S. 15-41 registriert Karl Preisendanz von
1414 bis 1474 mehrere Einbinde-Aktionen und starke Fluktuationen im
Buchbestand. Wäre unser Fragment schon damals von Reichenauer Buchbin-
dern zerschnitten oder der Konstanzer Dombibliothek überlassen worden, so
hätten sich wohl noch andere Reste des Lehrbuchs in Einbänden wiedergefun-