Metadaten

Borst, Arno; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1989, 1. Abhandlung): Astrolab und Klosterreform an der Jahrtausendwende: vorgetragen am 11. Februar 1989 — Heidelberg: Winter, 1989

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48156#0114
License: In Copyright
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
104

Arno Borst

Seit dem späten 16. Jahrhundert, noch ehe der Stadtrat von Konstanz
seine Rechnungsbücher in die Reste dieses Lehrbuchs einbinden ließ,
verkam das Astrolab zu einem Prunkstück fürstlicher Kuriositäten-
kammern, von steigendem Sammlerwert und sinkendem Praxisbezug.
Nur Dichter beschworen es unentwegt, als Sinnbild einer untergehen-
den Welt, am eindrucksvollsten auf der iberischen Halbinsel, die es
sechshundert Jahre zuvor der Christenheit überliefert hatte und ihm
nun ein letztes Refugium bot.
Als Luis de Camöes 1572 das Heldenepos der portugiesischen
Entdeckungen veröffentlichte, sah man den kühnen Vasco da Gama an
der afrikanischen Westküste, auf dem Seeweg nach Indien, Ende 1497
lo novo instrumento do Astrolabio erproben. Camöes pries es pathe-
tisch, als „Erfindung eines feinen und gelehrten Urteils“. Seine
Landsleute hatten das Marine-Astrolab tatsächlich erst um 1480 neu
entwickelt, als Kümmerform des planisphärischen Astrolabs. Es wies
nicht mehr das Himmelsmodell der Vorderseite auf, Vorder- und
Rückseite spielten nicht mehr wie eine Rechenmaschine zusammen,
übrig blieb bloß von der Rückseite der Winkelmesser mit Visierein-
richtung, um die Höhe der Sonne oder eines Sterns zu ermitteln. Dem
Seehelden hatte dieses Astrolab fünf Mondmonate nach dem Aufbruch
aus Lissabon angezeigt, daß er den Wendekreis des Steinbocks
überschritt, der beim alten planisphärischen Astrolab am äußersten
Rand lag; Vasco da Gama war somit weiter nach Süden gesegelt als
jeder Seefahrer der Alten. Vor achtzig Jahren hatte das Astrolab trotz
oder gar wegen seiner Vereinfachung noch einmal den Horizont
unserer Welt erweitert; Camöes wußte es aus historischen Quel-
len.* * * 188
Inzwischen freilich diente es allenfalls noch einigen Hochseelotsen
und Feldmessern zur räumlichen Orientierung, während sich die
zeitliche seit der Gregorianischen Kalenderreform an immer präzisere
Uhrwerke hielt. Der Spanier Miguel de Cervantes entrückte das
dekorative Gerät mit dem klangvollen Namen 1615 aus der faktischen
Welt ganz in die fiktive. Es geisterte durch die phantastische Szene, in

den; siehe oben Anm. 2, 3 und 8. Das Fragment dürfte also erst zwischen 1474
und 1540 aus der Reichenauer Klosterbücherei ins Konstanzer Stadtarchiv
gewandert sein.
188 Luis de Camöes, Os Lusiadas V, 25, hg. von Jeremiah D. M. Ford (1946) S. 150.
Dazu, auch zur Quelle, Reis Brasil, Os Lusiadas. Comentärios e estudo critico,
Bd. 5 (1966) S. 119-133; Luciano Pereira da Silva, A astronomia de os Lusiadas
(1972) S. 161-188 (Hinweis von Gustav Siebenmann).
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften