Der Begriff der Würde im antiken Rom
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nung des Universums mitvollziehen, wie es Poseidonios ausdrückte, der
als das Lebensziel definierte: συγκατασκευάζειν τήν των δλων αλή-
θειαν καί τάξιν (Clemens Strom. 2,129,4).
Dadurch, daß dem Menschen ein solcher Vorrang eingeräumt wird,
erfährt das menschliche Selbstbewußtsein eine eigentümliche Steige-
rung, wie Max Scheier im Anschluß an Ernst Cassirer bemerkte.84 Aber
noch wichtiger ist, daß daraus eine Verpflichtung abgeleitet wird, der
sich der Mensch nicht entziehen kann. Wenn er sein wahres Wesen
erkennt, steht er unter einem heiligen Auftrag. In der zusammenfassen-
den Betrachtung über den Wert des Philosophierens am Schluß des
ersten Buches der Gesetze formuliert Cicero (1,59): „Wer sich selbst
erkennt, wird empfinden, daß er etwas Göttliches besitzt, und er wird
immer etwas tun und empfinden, was eines so großen Geschenkes der
Götter würdig ist.“85 Selbsterkenntnis ist Erkenntnis des ,Göttlichen in
uns‘ (Aristoteles: τό θειον εν ήμϊν). Dies geht auf die spätplatonische
Lehre zurück, daß Selbsterkenntnis nur durch die Selbstanschauung des
νοϋς im Spiegel der Gotteserkenntnis zu verwirklichen sei, wie sie der
pseudoplatonische Dialog Alkibiades vertritt (132e-133c).86 An dem
Göttlichen in uns hat sich das sittliche Handeln zu orientieren. Die Ein-
bürgerung der griechischen Philosophie in Rom durch Cicero gibt so der
römischen Welt eine neue Norm, die neben die altrömische Norm tritt:
den mos maiorum, der durch bestimmte Vorbilder repräsentiert wird.87
An die Vorstellungen der platonisch-stoischen Philosophie, wie sie
Cicero wiedergibt, schließt sich dann in der Spätantike Boethius (ca.
480-525) in der Consolatio philosophiae an. Gott wollte, heißt es dort,
„daß das Menschengeschlecht über allen irdischen Dingen stehe, aber
ihr stoßt eure Würde noch tiefer als das Allerniedrigste hinab“: ille genus
humanum terrenis omnibus praestare voluit, vos dignitatem vestram infra
infima quaeque detruditis (2,5,27). Es ist die Bestimmung der Men-
schennatur, die humanae naturae condicio - ein Ausdruck, der im glei-
chen Zusammenhang immer wieder auftaucht -, daß sie nur dann alles
84 Μ. Scheier, Mensch u. Geschichte, Neue Rundschau 1926, 449ff.
85 leg. 1,59: qui se ipse norit. . . aliquid se habere sentiet divinum . . . tantoque munere
deorum semper dignum aliquid et faciet et sentiet. Hierzu vgl. P. Courcelle, Connais-toi
toi-meme. De Socrate ä saint Bernard, Bd. 1-3, Paris 1974-1975.
86 W. Jaeger, Aristoteles, Berlin 1923, 169 nimmt an, daß er von einem Schüler Platos
verfaßt sei.
87 Zur Berufung auf maiorum exempla s. oben S. 37, Anm. 77. Entsprechend fordert
König Euander den Aeneas auf, sich an der Genügsamkeit des Hercules ein Vorbild zu
nehmen, der mit Euanders bescheidenem Haus vorlieb nahm (Aen. 8,364): aude hospes
contemnere opes et te quoque dignum / finge deo rebusque veni non asper egenis.
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nung des Universums mitvollziehen, wie es Poseidonios ausdrückte, der
als das Lebensziel definierte: συγκατασκευάζειν τήν των δλων αλή-
θειαν καί τάξιν (Clemens Strom. 2,129,4).
Dadurch, daß dem Menschen ein solcher Vorrang eingeräumt wird,
erfährt das menschliche Selbstbewußtsein eine eigentümliche Steige-
rung, wie Max Scheier im Anschluß an Ernst Cassirer bemerkte.84 Aber
noch wichtiger ist, daß daraus eine Verpflichtung abgeleitet wird, der
sich der Mensch nicht entziehen kann. Wenn er sein wahres Wesen
erkennt, steht er unter einem heiligen Auftrag. In der zusammenfassen-
den Betrachtung über den Wert des Philosophierens am Schluß des
ersten Buches der Gesetze formuliert Cicero (1,59): „Wer sich selbst
erkennt, wird empfinden, daß er etwas Göttliches besitzt, und er wird
immer etwas tun und empfinden, was eines so großen Geschenkes der
Götter würdig ist.“85 Selbsterkenntnis ist Erkenntnis des ,Göttlichen in
uns‘ (Aristoteles: τό θειον εν ήμϊν). Dies geht auf die spätplatonische
Lehre zurück, daß Selbsterkenntnis nur durch die Selbstanschauung des
νοϋς im Spiegel der Gotteserkenntnis zu verwirklichen sei, wie sie der
pseudoplatonische Dialog Alkibiades vertritt (132e-133c).86 An dem
Göttlichen in uns hat sich das sittliche Handeln zu orientieren. Die Ein-
bürgerung der griechischen Philosophie in Rom durch Cicero gibt so der
römischen Welt eine neue Norm, die neben die altrömische Norm tritt:
den mos maiorum, der durch bestimmte Vorbilder repräsentiert wird.87
An die Vorstellungen der platonisch-stoischen Philosophie, wie sie
Cicero wiedergibt, schließt sich dann in der Spätantike Boethius (ca.
480-525) in der Consolatio philosophiae an. Gott wollte, heißt es dort,
„daß das Menschengeschlecht über allen irdischen Dingen stehe, aber
ihr stoßt eure Würde noch tiefer als das Allerniedrigste hinab“: ille genus
humanum terrenis omnibus praestare voluit, vos dignitatem vestram infra
infima quaeque detruditis (2,5,27). Es ist die Bestimmung der Men-
schennatur, die humanae naturae condicio - ein Ausdruck, der im glei-
chen Zusammenhang immer wieder auftaucht -, daß sie nur dann alles
84 Μ. Scheier, Mensch u. Geschichte, Neue Rundschau 1926, 449ff.
85 leg. 1,59: qui se ipse norit. . . aliquid se habere sentiet divinum . . . tantoque munere
deorum semper dignum aliquid et faciet et sentiet. Hierzu vgl. P. Courcelle, Connais-toi
toi-meme. De Socrate ä saint Bernard, Bd. 1-3, Paris 1974-1975.
86 W. Jaeger, Aristoteles, Berlin 1923, 169 nimmt an, daß er von einem Schüler Platos
verfaßt sei.
87 Zur Berufung auf maiorum exempla s. oben S. 37, Anm. 77. Entsprechend fordert
König Euander den Aeneas auf, sich an der Genügsamkeit des Hercules ein Vorbild zu
nehmen, der mit Euanders bescheidenem Haus vorlieb nahm (Aen. 8,364): aude hospes
contemnere opes et te quoque dignum / finge deo rebusque veni non asper egenis.